Reden, streiten, überzeugen. Immer wieder von vorne. Immer wieder mit neuen Menschen. Es ist, als wäre man seine eigene Werbetrommel. Ich trage dazu noch ausschließlich Blau und Gelb und schleppe überall meine EU-Fahne mit. Aber so weit muss man ja nicht gehen.
Es ist eine selbstlose Liebe, die ich zur Europäischen Gemeinschaft entwickelt habe. Deshalb überfordert mich auch die Frage, was denn die EU jedem von uns persönlich bringt. Aber ich kann sie für mich beantworten: Gäbe es Europa nicht, würde mir die Luft zum Atmen fehlen, das Wasser zum Trinken, ich könnte nicht arbeiten, nicht einkaufen, nicht in Frieden, Vielfalt, Gemeinschaftlichkeit und Gleichberechtigung leben. Ich könnte nicht studieren, nicht verreisen, nicht mitbestimmen, nichts bewirken und nicht frei sein.
Jedes einzelne Stichwort, das in der EU festgeschrieben ist, gilt auch persönlich für jeden von uns. Jedes Schlagwort, das schon tausend Mal getrommelt wurde, darf jeder von uns auch persönlich auf sich beziehen. Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit, Sicherheit, Frieden sind große Worte. Aber sie wirken bis ins Kleinste. Wenn wir sie als Sprechblasen empfinden, könnte das auch daher kommen, dass wir uns nicht tagtäglich nach ihnen sehnen müssen.
Wenn ich meine Biografie erzähle, versteht man Europa. Vereint in Vielfalt. Ich bin die Erfolgsgeschichte. Beim Salzburg Congress stand ich, in knallblauem Hosenanzug, vor einer Tribüne staatsmännischer Anzüge und erzählte, wie es durch meine Förderlehrerin möglich gewesen war, mich zu integrieren, und dass das zeige, wie es sehr wohl gelingen kann, Kindern die Chance zu geben, sich zu entwickeln. Die Anzugträger fielen über mich her und warfen mir Blümchenpolitik vor und wie unrealistisch das nicht sei.
Auf einmal waren die Schülerinnen und Schüler, die bislang in den hinteren Reihen fast eingenickt waren, hellwach. Es war eine siebte oder achte Klasse, jedenfalls kurz vor der Matura. Spontan begannen sie, meine Kritiker auszubuhen und applaudierten mir schließlich im Stehen.
Nach der Veranstaltung kamen sie auf mich zu und bedankten sich für meinen Vortrag: »Seit zwei Tagen sitzen wir hier, aber das war die erste lebendige Diskussion. Dank Ihnen.« Sie siezten mich! »Endlich spricht jemand für uns. Wenn wir so alt sind, wollen wir so werden wie Sie.« Ich war stolz und überwältigt.
Dieses Buch erzählt im Grunde genau diese Geschichte, eine Geschichte aus einem echten Leben. Meine Europa-Geschichte. Sie soll die Menschen innerhalb der EU aufwecken und wachsam machen, um uns zur Wehr setzen zu können.
Als ich 2019 für die NEOS bei den EU-Wahlen kandidierte, musste ich mich wieder entscheiden. Europabewegung oder Europapolitik. Ich entschied mich für die Politik. Wir brauchen ein klimafreundliches Wirtschaftswachstum, Investitionen in erneuerbare Energie, Sanktionen gegenüber Umweltsünder, mehr Zusammenarbeit in Sicherheit und Verteidigung für Europa.
Wir brauchen Weiterentwicklung in der EU, damit sie überhaupt entscheidungsfähig und handlungsfähig wird. Denn derzeit wird vieles, was im Europäischen Rat entschieden werden soll, von den Regierungschefs blockiert. Wir kommen nicht voran. Bei den Wahlen verlor ich. Aber mein Engagement ist ungebrochen.
Vor allem in Richtung europäische Verfassung. Die Verträge, auf denen alles beruht, sollen auf einen Verfassungsvertrag gebracht werden, in dem auch die Werte festgeschrieben sind, die unser Grundbewusstsein nähren. Ein Dokument wie ein einigendes Dach. Ein Postulat für die Freiheit, ein Postulat für den Frieden.
Lasst uns das Licht im Leuchtturm der europäischen Idee bewahren. Lasst uns die zwölf gelben Sterne zum Pulsieren bringen. Lasst uns das emotionale Fundament Europas neu errichten.
Ich lebe meinen Traum, die Europäische Union durch die Europäerinnen und Europäer neu zu begründen und in Georgien eines Tages den Frieden zu sichern.
Ich halte mich an Winston Churchill: »Gib niemals nach – niemals, niemals, niemals, niemals, in nichts Großem oder Kleinem, in nichts Großem oder Kleinlichem, gib niemals nach, außer in Überzeugungen der Ehre und des gesunden Menschenverstands. Gib niemals der Gewalt nach; gib niemals der scheinbar überwältigenden Macht des Feindes nach.«
Deshalb rufe ich euch auf mit diesem Buch:
Lasst uns um Europa kämpfen *
* Du könntest AktivistIn werden. Lesen auf eigene Gefahr.
»Es lebte einst ein König, der dreißig Kinder hatte. Als er eines Tages dem Tode nahe war, bat er seine Kinder, dreißig Pfeile zu holen. Er schnürte alle Pfeile vor ihnen demonstrativ in einem Bündel zusammen und versuchte sie zu brechen. Er scheiterte. Dann nahm er einen Pfeil nach dem anderen heraus, zerbrach sie einzeln und sagte zu seinen Kindern: »Wenn ihr zusammenhält, wird euch der Feind nicht brechen können, genauso wie ich nicht die Bündel dieser Pfeile brechen konnte. Wenn ihr jedoch auseinandergeht, wird euch der Feind alle einzeln erwischen und brechen.«
– Sulchan-Saba Orbeliani 1700 n. Chr.
(georgischer Fürst, Mönch, Diplomat und Schriftsteller)
Die Sonne brennt mir in den Augen. Ich starre aus dem Autofenster hinauf in einen wolkenlosen Himmel. Das endlose Blau, das sich über all das spannt, was gerade hier unten passiert, ist grotesk. Der Gegensatz könnte nicht schärfer sein. Dunkle Stunden in gleißendem Sommerlicht. Dieser Himmel über uns ist nicht mehr freundlich, er ist voller Gefahr.
»Seht ihr Flugzeuge?«, fragt mein Vater, »seht ihr welche?«
Ich sitze auf dem Rücksitz eines großen, kaputten Geländewagens, in dem es trotz Motorenlärm unheimlich still ist. Selbst das Radio gibt keinen Ton mehr von sich. Wenn ich nicht in den Himmel starre, sehe ich das angespannte Gesicht meines Vaters im Rückspiegel. Er blinzelt im Fahrtwind, der durch die zerbrochene Frontscheibe pfeift. Ich umklammere den Türriemen, dass es fast wehtut. Mein kleiner Bruder umklammert meinen Arm, dass es richtig wehtut. Auch er gibt keinen Mucks von sich, in seinen Augen liegt derselbe angstvolle Blick wie in denen meines Vaters. Meine Mutter schaut zum anderen Autofenster hinauf in das unheilvolle Blau.
»Sagt sofort Bescheid, wenn ihr Flugzeuge seht«, sagt mein Vater, »seht ihr sie schon?«
Niemand antwortet.
Wir fahren schnell. Auf der Autobahn nach Gori sind kaum Menschen unterwegs. Normalerweise herrscht hier ordentlich Verkehr, aber heute ist nicht normalerweise. Die Ost-West-Fernstraße ist in diesen Tagen im August 2008 nicht bloß die Verbindung zwischen Südossetien und Gori, sie ist Ziel russischer Luftangriffe. Der einzige Weg von Ost nach West führt durch das Kriegsgebiet.
»Wir müssen diesen Weg nehmen«, habe ich meine Eltern in der Früh flüstern gehört. »Er ist der einzige Richtung Westen. Wenn wir dort nicht durchkommen, schaffen wir es nicht. Die S1 ist unsere einzige Chance«, sagte mein Vater leise, aber eindringlich. »Wenn wir zurückbleiben«, er machte eine Pause, »werden sie uns töten.«
Es war sehr früh am Morgen, aber für mich machte es keinen Unterschied. Ich konnte ohnehin nicht schlafen, seit der Krieg begonnen hatte. Unter meinem Kopfkissen lag ein Foto von meinen Freunden aus Deutschland. Ich schaute mir jedes der Gesichter an, als würde ich es nie Wiedersehen, und weinte leise. Dann betete ich still, für meine Familie, für meine Freunde und für alle Menschen in diesen frühen August-Tagen in Georgien, wo um Südossetien und Abchasien gekämpft wurde.
Für alle anderen Menschen, die darüber in den Nachrichten hören, ist es der sogenannte Kaukasus-Krieg. Für uns, die wir ausgerechnet in diesem August aus Deutschland wieder einmal heimgekommen sind, um unsere Verwandten zu besuchen, ist es die Angst, von einer Bombe getroffen zu werden, bevor wir das Land wieder verlassen können. Ich lag im Bett und dachte an meine Oma. Ich weinte und hielt mich an meinem Foto fest.
Читать дальше