Die spätere zweite Speerwurfbegebenheit in 19,8–10 bestätigt den Lesenden indirekt von ihrem narrativen Inhalt her, dass Saul in der ersten Begebenheit aufgrund des besungenen Schlagvermögens auf David einschlug. Trotz Modifikationen in den Schilderungen beider Begebenheiten ähneln sich deutlich ihre Umstände und Sequenzen. Beide Speerwurfszenen erhellen sich gegenseitig. Der zweiten Speerwurfszene geht nun eine Kriegsnotiz unmittelbar voraus: David „schlug ... einen großen Schlag“ gegen die Philister (19,8
mit
). Darauf versucht Saul erneut und wieder von einem bösen Geist beeinflusst, David angesichts dessen großen Schlagvermögens zu erschlagen. 95
1Sam 19,8–10: Und es kam wieder zum Krieg. Und David rückte aus und kämpfte gegen die Philister, und er schlug sie mit großem Schlag (
), und sie flohen vor ihm. 9 Und ein böser Geist JHWHs kam auf Saul, als er in seinem Haus saß. Und sein Speer war in seiner Hand. Und David war mit seiner Hand beim Saitenspielen. 10 Und Saul suchte David mit dem Speer an die Wand zu schlagen. Aber er wich aus vor Saul, und er schlug den Speer in die Wand. Und David floh und entkam in jener Nacht.
Die zweite Speerwurfszene bestätigt so mittelbar die Annahme zu Kap. 18, dass schon das Lied über Davids Gewaltvermögen Saul zur Gewaltanwendung gegen David veranlasst hat. Saul wirft beide Male den Speer, nachdem David als Schlagender in den Blick kam, zuerst als ein mehr Schlagender (18,7.8), dann als der Versetzer eines großen Schlages (19,8).
Das Lied, seine Wahrnehmung durch Saul und das erste Speerwerfen zeigen den Lesenden nicht nur die Wende im Verhältnis zwischen Saul und David an. Damit beginnt auch im Lesegang das wiederkehrende Vorgehen Sauls gegen David, sei es, um David zu vernichten, oder sei es, um ihn nur auf Distanz zu halten.
Hierbei ist ein Unterschied beim Wissensstand der Figuren zu beachten. Die Lesenden erleben eine erzählte Welt, in der das Zerwürfnis zwischen Saul und David von Saul her seinen Ausgang nimmt, und zwar im verborgenen Inneren Sauls. David hat in Kap. 18 keine Kenntnis davon, was Saul gegen ihn vorhat.
Schon allein anhand der beiden Speerwurfszenen wird dieser Unterschied beim Wissensstand deutlich. In der zweiten wirft Saul nur einmal den Speer, worauf David nicht nur ausweicht, sondern auch sofort die Flucht ergreift (19,10). In der ersten Szene wirft Saul gleich zweimal; David aber weicht nur aus und sucht keineswegs das Weite. Denn im ganzen Kap. 18 weihen Sauls Selbstgespräche allein die Lesenden über seine Vorhaben gegen David ein (18,8.11.17.21; 96vgl. 18,25). Erst in 19,1–2 legt Saul seinen Knechten und Jonatan offen dar, David töten zu wollen. Sauls Tötungsabsicht erzählt Jonatan David weiter. Danach vermag zwar Jonatan Saul umzustimmen, und David kann Saul weiter dienen (19,2–7). Aber David hatte nun Jonatans Information gehört (19,2): „Mein Vater Saul sucht dich zu töten (
)!“ Aufgrund dieser Information Jonatans geht David erst in Kap. 19 angesichts des geworfenen Speers auf, dass Saul ihn damit töten will, so dass sich David durch die Flucht ins Weite rettet.
Beim ersten Speerwerfen geht David noch nichts auf. Wie die Unbedarftheit Davids in dieser Sequenz zu erklären ist, bleibt eine spannende Frage. Beispielsweise überlegte David Toshio Tsumura, ob Saul das Speerwerfen hier als „military training“ 97getarnt habe. Jedenfalls ergreift hier David keine Angst. Hingegen fängt es bei Saul an, dass er sich vor David fürchtet (18,12
).
18,12 erklärt diese Begebenheit und Sauls Furcht theologisch: „denn JHWH war mit ihm (= David) (
), aber von Saul hatte er sich entfernt (
).“ 98Diese Erklärung bezieht keine Einsicht Sauls in göttliche Dimensionen ein, wie später Vers 18,28 (
). Diese Erklärung in 18,12 wird nur den Lesenden gegeben und ruft erneut Hintergründe wach.
Denn der Knecht, der in 16,18 am Hofe Sauls David ins Spiel gebracht hatte, beendete sein Vorstellen Davids mit der Wendung: „Und JHWH ist mit ihm (
).“ Saul selbst sagte dann in 17,37 vor dem Kampf mit Goliat zu David: „Geh, und JHWH wird mit dir sein (
).“ Mit 18,12 konstatiert erstmals ein Erzähltext das Mitsein JHWHs mit David (vgl. 18,14.28). 99Die Gegenüberstellung hierzu innerhalb von Vers 18,12, wonach sich JHWH von Saul entfernt hatte, erinnert an die Einwirkungen von Geistern auf Saul. Nachdem der „Geist JHWHs“ in Kap. 16 David bleibend durchdrungen hatte (16,13), entfernte sich – wie erwähnt – dieser „Geist JHWHs“ von Saul (
) und ein „böser Geist“ beherrschte ihn.
Kap. 18 beleuchtet so, worin eine Gewaltattacke Sauls gründet. Dabei hat der böse Gottesgeist zwar einen erhellenden, aber auch nur eher bedingten Anteil. JHWH und sein positives Mitsein (10,7) 100waren längst von Saul gewichen. In diesem engen und sehr speziellen Sinne „gott-los“ geworden, hallte in Saul der Gesangstext der Frauen nach. In Sauls Nachhall hat Ruhm und Ansehen ein erdenklicher Throninhaber, also David, aufgrund des festgehaltenen Schlagvermögens. Erst in dieser konturierten Situation, bei der längst in Sauls Augen für ihn „Übles/Böses“ vorlag (18,8
), drang diesmal im Nachhinein der böse Gottesgeist (18,10
) in Saul ein, 101das nun ‚Üble Gottes’.
Sauls Gewaltausübung wird so zuerst immanent und dann dabei nachträglich auch theologisch ausgeleuchtet. Ihr Scheitern hat aber vor allem theologische Gründe. Saul kann JHWHs Schützling nicht vernichten, nur von sich entfernen (18,13
) und militärisch einsetzen (vgl. 18,12
), womit aber Saul letztendlich David wieder weitere Erfolge ermöglicht (18,14–16 u.ö.).
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