Schließlich wurde in Österreich, im Unterschied zu Deutschland, nach dem II. Weltkrieg die durch den Nationalsozialismus abgebrochene Verbände-Tradition nicht wieder aufgenommen, vielmehr die Katholische Aktion weitergeführt, deren Geistlicher Assistent nach dem Krieg niemand anders als Ferdinand Klostermann war. Klostermann war zudem auf dem Konzil Mitarbeiter am konziliaren Laiendekret, wenn er auch zu diesem durchaus lange eine skeptische Haltung einnahm. 244
Zum anderen gibt es auch eine personelle Kontinuität: Theodor Innitzer war – schon als Kardinal – der Habilitationsvater des Wiener Pastoraltheologen Michael Pfliegler, dieser wiederum der Habilitationsvater seines unmittelbaren Nachfolgers Ferdinand Klostermann. Auch Klostermanns Lehrer Michael Pfliegler war ein leidenschaftlicher Anhänger der „Katholischen Aktion“. 1935 begrüßte er die neu angebrochene Zeit des „totalen Staates“, sah schließlich nicht jetzt mehr Wissenschaft gegen Glauben, sondern Glauben gegen Glauben kämpfen, denn heute wisse man, „dass der Glaube die stärkste und allein Ordnung schaffende Macht“ 245sei.
Ferdinand Klostermann war durch Michael Pfliegler zur Pastoraltheologie gekommen, biografisch gesehen relativ spät. Pfliegler wie Klostermann waren klassische Kirchenreformer ihrer Zeit, Pfliegler stand zeitweise gar den religiösen Sozialisten nahe, Klostermann war mit Rahner Konzilsperitus des Wiener Kardinals König und innerhalb der Wiener Theologischen Fakultät bis zu seiner Emeritierung auf deren linkem Flügel positioniert. Wir sind hier also nicht im Milieu der „braunen Priester“ 246, eher im Milieu eines modernisierungswilligen Reformkatholizismus. Klostermann kam wegen seines regimekritischen Wirkens in der Jugend- und Studentenseelsorge gar vom 31. 3. bis 15. 12. 1942 in Gestapohaft, 1943 bis 1945 war er nach Ausweisung aus den Alpen- und Donaugauen und einem Zwangsaufenthalt „nördlich der Mainlinie“ Kaplan der Berliner Pfarre St. Agnes.
Ferdinand Zauner, 247Schüler und Freund Klostermanns, berichtet in seinem bereits erwähnten Rückblick auf das Leben seines Lehrers, dass dieser noch 1949 die „Idee der Gemeinde“ als „protestantisch“ betrachtet und nicht, wie etwa Innitzer, als selbstverständlichen Konzeptbestandteil der „Katholischen Aktion“ verstanden habe. Im Theoriebereich zeigt sich hier also ein Kontinuitätsbruch, wie er freilich der praktischen Basisrealität der katholischen Kirche Österreichs entsprochen haben dürfte. Die „Katholische Aktion“ hatte zwar die katholischen Vereine praktisch vollständig ersetzt, das Gemeindekonzept des Vorkriegs-KA-Programms hatte aber nicht wirklich gegriffen. Die Umformatierung der Basisstruktur der katholischen Kirche im Sinne eines aktivierten und aktivierenden Gemeindelebens als dichten Gemeinschaftslebens hatte nicht wirklich stattgefunden – mit Ausnahmen. Über eine dieser Ausnahmen scheint auch die Vermittlung von Gemeindetheologie 1935 und Gemeindetheologie 1970 gelaufen zu sein: die Hochschulgemeinde Wien.
Bei Zauner ist zu erfahren, dass Klostermann die „Gemeinde“-Idee vom Wiener Hochschulpfarrer Karl Strobl 248(1908-1984) kennen gelernt habe. „Strobl hatte während des Zweiten Weltkrieges katholische Studenten als christliche Gemeinde versammelt, nachdem sämtliche kirchlichen Verbände verboten waren.“ Das entspricht nun tatsächlich ganz dem Innitzerschen Konzept. Zauner weiter: „Nach 1945 setzte man dann vor allem auf die Katholische Aktion. Der Hochschulseelsorger Strobl gründete die Katholische Hochschuljugend als selbständige Gliederung der Katholischen Aktion, beließ jedoch die ‚Gemeinde‘ als Kirche an der Universität.“ Auch das entspricht dem ursprünglichen KA-Konzept.
Klostermann sieht das ursprünglich offenbar anders. „Dem konsequenten Systematiker Klostermann“, so Zauner,
war dies lange ein Dorn im Auge. Er belächelte Strobls Idee der Gemeinde als „protestantisch“. Katholisch seien die Pfarre und die Katholische Aktion. Erst in einem Schiurlaub auf dem Arlberg mit dem damaligen Religionslehrer Günter Rombold 249konnte Klostermann dazu gebracht werden, die Theologie der Gemeinde zu durchdenken. Das Ergebnis war das … „Prinzip Gemeinde“, gewidmet „Der Katholischen Hochschulgemeinde Wien“. 250
Offenbar genügten ein Schiurlaub und ein überzeugender Praxisbericht, um ein revolutionäres pastoraltheologisches Konzept zu entwickeln, genauer: um ein bereits vor dem Krieg im Ständestaat versuchsweise propagiertes und in der Wiener Hochschulgemeinde weiter getragenes pastorales Konzept wieder aufzugreifen. Vielleicht ist ja tatsächlich Kardinal Innitzers Konzept „KA und Pfarrgemeinde“ in der Perspektive einer gemeinschaftsorientierten Aktivierung konsequenter als Klostermanns ursprüngliches Programm „KA und Pfarre“, das letztlich Kardinal Piffls minimalistischer Rezeption des päpstlichen KA-Konzepts entsprach. Die Wiener Hochschulgemeinde und deren Leiter Karl Strobl verkörpern offenbar die Kontinuitätsschiene, über welche die Gemeindetheologie 1935 den Vater der Gemeindetheologie 1970 erreichte. Historisch gesehen dürfte gelten: Die katholische Gemeindetheologie entstand im Umfeld der österreichischen Katholischen Aktion und des katholisch dominierten Ständestaates, überlebte in der Wiener Hochschulgemeinde unter Karl Strobl, gelangte schließlich zu Ferdinand Klostermann und wurde von diesem ausgesprochen erfolgreich in den nach-vatikanischen pastoraltheologischen Diskurs eingespeist.
Die gemeindetheologischen Ansätze von 1935 und 1970 ähneln sich, unterscheiden sich freilich auch. Beide gehen von einer bislang defizitären kirchlichen Reaktion auf die Säkularisierungsprozesse ihrer jeweiligen Gegenwart aus. Beide versuchen, angesichts des „mitten im Herzen des entchristlichten, um nicht zu sagen entgotteten Abendlandes“, so wie bereits zitiert Kardinal Innitzer 1935 (!), die katholische Großkirche an ihrer Basis gemeinschaftsorientiert zu reformatieren, und beide laden dazu die eher formale kirchenrechtliche Größe „Pfarre“ mit gemeinschaftsnahen Kategorien auf: unter dem Begriff „Pfarrgemeinde“ 1935, unter dem Begriff „Gemeinde“ 1970. Sie gleichen sich auch in der Dualität von Emanzipationspathos der Laien und unangetasteter Leitungsgewalt der Priester.
Die beiden gemeindetheologischen Ansätze unterscheiden sich aber darin, wie diese unangetastete Leitungsgewalt dann konkret gedacht wird. 1935 geschieht dies zeittypisch mit anti-liberaler Stoßrichtung in Kategorien von Über- und Unterordnung und konkret gefasst in der Führerkategorie. 1970 wird diese unangetastete „Letztverantwortung“ des Klerus dann demokratiekompatibler eher in familiaristisch-paternalistischen Kategorien wie „Pfarrfamilie“, „brüderliche Leitung“ und „Einmütigkeit“ gefasst.
Damit wird auch die zentrale Diskontinuität erkennbar, die mit den beiden Jahreszahlen 1970 und 1935 benannt werden kann: Sie liegt im völlig gewandelten politischen und kulturellen Kontext. Wurde die „Gemeindetheologie 1935“ zu Beginn des autoritären österreichischen Ständestaates vorgelegt, so die „Gemeindetheologie 1970“ in der nachkonziliaren Aufbruchsphase und zudem auch unmittelbar nach jenem westeuropäischen und US-amerikanischen Kulturumbruch und Demokratisierungsschub, den man gewöhnlich mit der Chiffre „1968“ umschreibt. Führerideologie und anti-demokratisches Ordnungsdenken waren damit natürlich obsolet geworden, die „Gemeindetheologie 1970“ galt ja auch eher als „progressives“, weil tendenziell egalitäres innerkirchliches Konzept. Umgekehrt stellt sich dann aber die Frage, inwiefern fast identische Konzepte in solch radikal unterschiedlichen zeithistorischen Kontexten entwickelt, präsentiert, attraktiv und zumindest partiell auch erfolgreich werden konnten. Welche Funktion erfüllten diese gemeindetheologischen Diskurse in der jeweiligen kirchlichen Lage? Was war 1935 wie 1970 so attraktiv an diesem Konzept?
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