Jes 29,15 kommt so nahe, daß man fast an eine bewußte literarische Bezugnahme von seiten Ezechiels denken möchte:
- „Weh euch, die ihr vor Gott in die Tiefe weicht, um einen Rat zu verbergen, damit im Finsteren eure Taten sind, da sagtet ihr: wer sieht uns und wer kennt uns?“ Die Beziehung zu dieser Stelle, die für Finsternis nicht ganz dasselbe Wort, aber doch ein von derselben sprachlichen Wurzel herkommendes verwendet, ist deshalb so bedeutungsvoll, weil damit der Bezug zu einer lange zurückliegenden, aber politisch vergleichbaren Situation hergestellt wird. Jesaja kritisiert mit diesen Worten, die nach Wildberger als ursprünglich jesaianisch angesehen werden dürfen, heimliche Bemühungen seiner Zeit um ein Bündnis mit Ägypten. 89Ezechiel kritisiert eine Bündnispolitik mit Ägypten zu seiner Zeit in ähnlicher Schärfe. Die Beziehung zur Jesaia-Stelle wirft ein gewisses Licht auf die Einbindung der Redensart in ihren unmittelbaren Zusammenhang (ihre Inszenierung). Während der Begriff „Finsternis“ eine Beziehung zur Inszenierung erlaubt, erinnert das fingierte Zitat „wer sieht uns?“ an die Redensart selbst. Ob vielleicht das „sieht uns nicht“ bei Ez 8,12, das in der Parallelstelle 9,9 fehlt, nach Vergleichung mit der Jes-Stelle hinzugefügt wurde? Im Umkreis von 9,9 fehlt wiederum ein solcher Hinweis auf die „Finsternis.“ In Beziehung zu Jes 29,15 gesehen, erhält die Ez-Stelle eine stärkere politische Akzentuierung, als man ihr unmittelbar ansehen möchte. Der „Rat“ der Jes-Stelle weist außerdem auf Ez 11,2 voraus, wo ein solcher „böser Rat“ mit einer weiteren Redensart genannt wird, bei der der politische Hintergrund deutlich im Vordergrund steht. 8,12 ist aber wohl nicht so zu verstehen, daß die Ältesten diesen Rat selber mitbetrieben - es wird ja auch kein solcher in 8,12 genannt -, sondern nur so, daß die Ältesten indirekt durch ihre religiöse Abhängigkeit von Ägypten eine solche Politik mit unterstützen. Nach Wildberger kann auch in Jes 29,15 mit der unbestimmt gelassenen Frage: „wer sieht uns?“ nur Gott selbst gemeint sein. 90Bei den Sprechern der Redensart Ez 8,12 dürfte vielleicht doch mehr Resignation als ausgesprochene Gottlosigkeit im Spiele sein. Jedenfalls macht der Vergleich deutlich, daß die Sprecher sich deshalb von Gott verlassen fühlen, weil sie sich selber mit ihrem Tun isolieren und die Dunkelheit suchen.
Der Eindruck persönlicher Verantwortung der je angesprochenen Menschen verstärkt sich noch, wenn es im Folgenden heißt:
- „ein Jeder“ ( 12c ). Trotz der Zahl von siebzig Personen handelt es sich für Ezechiel nicht um eine Massenversammlung, bei der viele nur einfach mitgezogen werden. Der gesuchten Heimlichkeit des Tuns entspricht auch ihr privater, eigenverantwortlicher Charakter. „Ein Jeder“ tut die genannten Dinge
- „in den Kammern“. Dieser Ausdruck wird bevorzugt von den innersten Privatgemächern eines Hauses gebraucht. Als Beispiel für viele diene Gen 43,30. Dort ist es der Ort, an den sich Joseph zurückzieht, um sich auszuweinen, nachdem er unter seinen Brüdern auch seinen Lieblingsbruder Benjamin wiedererkannt hat.
In Ex 7,28 wird dem Pharao die Fröscheplage angekündigt, die bis in seine Schlaf-“Kammer“ dringen würden. Dagegen wird durch die Kammern Schutz versprochen, wenn Jes 26,20 dem Volk rät, den Tag des Gerichts in den „Kammern“ an sich vorübergehen zu lassen. Als Ort der Intimität und Verwundbarkeit des Menschen begegnet die „Kammer“, wenn in den Simson-Erzählungen Delila ihn in einer solchen zu überlisten versucht, bis es ihr endlich gelingt (Ri 16,9.12). Ein seltsamer Rückbezug auf Ez könnte in Joel 2,16 vorliegen, wenn dort das Volk zu einer öffentlichen Versammlung zusammengerufen werden soll, um durch Buße den Herrn zum Ablassen seines Zorngerichts zu bewegen. Als besondere Volksgruppe werden dabei die Ältesten eigens genannt, nachdem sie bereits am Eingang des Buches in 1,2 als erste Adressaten zum Hören aufgefordert werden. In 2,16 werden noch zusätzlich Bräutigam und Braut erwähnt, wenn
- „heraustreten soll der Bräutigam aus seiner Kammer und die Braut aus ihrem Brautgemach“. In poetischer Sprache will damit der Öffentlichkeitscharakter der Versammlung unterstrichen werden, für den die Mitglieder auch ihre heimlichsten Orte verlassen sollen. Ob zufällig oder beabsichtigt, ergibt sich so auch hier die Zusammenstellung von „Älteste“ und „Kammern“, um damit in meristischer Sprechweise öffentliches Amt und persönliches Privatleben mittels der Brautmetapher als Teile des gesellschaftlichen Gesamtlebens einander gegenüberzustellen. In Ez 8,12 gelingt es den „Ältesten“ auch am Tempel nicht, ihre „Heimlichkeiten“ hinter sich zu lassen.
Aber die Kammern werden noch näher bestimmt:
- „in den Kammern seines Gespinstes“. Für ein Götzenbild aus Stein benutzt auch Lev 26,1 dieses seltene Wort, wo es gilt, den bildlosen Kult einzuschärfen. In übertragener Redeweise spricht dann der Ps 73,7 von den
- „den Gebilden des Herzens“, ebenfalls abfällig im Sinne von schlechten Plänen. Ez 8,12 setzt wie Lev 26,1 den äußeren Götzenkult voraus, trägt aber durch das Personalsuffix der 3. P. Sg., bezogen auf
, eine gewisse subjektive Note ein, die an die Herzensgespinste gemäß Ps 73,7 denken läßt. Die ganze Heimlichtuerei und privatistische Absonderung der Ältesten, wie sie hier beschrieben wird, steht im schreiendsten Gegensatz zu ihrer Aufgabe als Älteste und Repräsentanten des Volkes.
Durch
- „fürwahr“ ( 12d ) eingeleitet, schließt sich das Part. Pl.
- „sie sagen“ an, das alles Folgende als Zitat aus dem Munde der Ältesten kennzeichnet. Die Ältesten sind damit als die Sprecher der Redensart hinreichend ausgewiesen, während die partizipiale Form des Verbs nicht auf einen einmaligen Ausspruch vorausdeutet, sondern auf eine wiederholte Äußerung, und damit auf eine grundsätzliche Haltung, soweit damit ins Wort gebracht. 91
Die Redensart weist eine zweiteilige Form auf (Teil 1: 12e ; Teil 2: 12f ). Es geht um die gegenwärtige Beziehung Gottes zu seinem Volk und seinem Land, die der Spruch prägnant ins Wort zu fassen versucht. Die Spruchteile sind in mancher Hinsicht parallel gebaut: Das Subjekt, durch den Gottesnamen ausgedrückt, steht jeweils an zweiter Stelle. Das unterschiedlich ausfallende Objekt dagegen beschließt den Satz und unterstreicht damit das Unterscheidende in der Aussage der Redeteile: einmal geht es um
- „uns“ ( 12e ), also um die Ältesten oder, wenn sie mehr als sich selbst im Blick haben, die Bevölkerung, das andere Mal um
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