Dort heißt es:
- „da sagte JHWH zu Mose, sammle mir siebzig Männer aus den Ältesten Israels“. Von Rolle und Auftreten der Ältesten im Buch Ezechiel war oben schon summarisch die Rede. Die Beschränkung auf eine bestimmte Zahl mit ihrer symbolischen Bedeutung (70 = 7x10) hebt die zusätzliche Verantwortung, die den betreffenden Personen übertragen wird, hervor. Dient die Anspielung in Ez 8,11 dazu, diese Verantwortung ins Gedächtnis zu rufen, so soll nach Mosis ein Gleiches auch für die mit den „Ältesten“ verbundene Präposition
- „aus“ gelten. Diese soll nicht so sehr der bloßen Einordnung in die umfassendere Gruppe dienen, sondern den offiziellen repräsentativen Charakter ihres Auftretens betonen. 84Der Sinn wäre nicht so sehr „siebzig Männer aus den Ältesten des Hauses Israel“, sondern „siebzig Männer in der Eigenschaft von Ältesten des Hauses Israel.“ Nur in Ez 8,11 werden die Ältesten mit dieser Zahlenangabe versehen. Die Präposition wird jedoch auch an den anderen Stellen beibehalten. So lesen wir in 14,1:
- „Männer von der Ältestenschaft Israels“ und treffen in 20,1 auf dieselbe Formulierung.
Die Vergleichsstellen Num 11,16 und Ex 24,9-11 werfen ein merkwürdiges Licht auf die Erwähnung der Ältesten bei Ezechiel. In Ex 24,9 erhalten die zuvor in 24,1 als Begleiter des Mose eingeführten Ältesten die ungewöhnliche Möglichkeit, Gott zu sehen, ohne dafür, wie sonst erwartet, sterben zu müssen. Damit ist bereits hier das Thema „Sehen“ vorgegeben, wie es in der Redensart Ez 8,12 eine so wichtige Rolle spielt. Der Hinweis erfolgt sowohl mit der Wurzel
, als auch mit der Wurzel
. In Ex 24,10 heißt es:
- „da sahen sie den Gott Israels“, und in V. 11:
- „und sie schauten den Gott.“
Es ist allerdings das Sehen der Ältesten, denen als außerordentliche Gunst gestattet wird, Gott selbst zu sehen. Ez 8,12 ist wie die Umkehrung dazu: die Ältesten klagen, daß Gott nicht sieht. Die Stelle Ex 24,9-11 weist auch sonst bei ihrer Theophanieschilderung gewisse Ähnlichkeiten mit der Thronwagenvision in Ez 1,26-28 auf. So wird an beiden Stellen der Saphir-Stein genannt. Die glänzende Klarheit der Erscheinung wird zwar nicht mit denselben, aber doch ähnlich klingenden Worten ausgedrückt. In Ez 1,28
- „der Glanz“, in Ex
- „für die Klarheit“. 85
Num 11,16-29 erwähnt nicht das Sehen der Ältesten, sondern bringt einen anderen Aspekt ein, nämlich den des Geist-Empfangs, den Mose an sie weitergibt, und der mit der zeitweiligen Verleihung der Prophetengabe verbunden ist: Num 11,25:
- „da weissagten sie“. Auf die Vorbehalte und Bedenken des Josua antwortet Mose in Num 11,29:
- „wenn doch das ganze Volk JHWHs zu Propheten gegeben würde, so daß JHWH seinen Geist gäbe auf sie.“
Ein Geist-Empfang wird von Ezechiel den Ältesten nicht zugesprochen. Die Ältesten benehmen sich vielmehr nicht so, wie sie nach ihm sollten. Den Geist empfängt zuerst nur Ezechiel in der Berufungsszene 2,1-2, und später empfangen ihn die toten Gebeine in 37,10. Dazwischen ergeht an das Volk die Verheißung eines neuen Geistes in 11,19 und 36,26. Es war jedoch bereits festzustellen, daß die Szene der Befragung die Ältesten bereits fast wie Prophetenschüler auftreten läßt und damit indirekt die Aufforderung anzudeuten scheint, auf Dauer wie Propheten zu werden.
Setzt man bei Ez einen bewußten Bezug auf diese Stellen voraus, dann kommt den Ältesten bei ihm eine höchst bedeutsame Funktion zu. Statt eine präzis umreißbare historische Gruppe anzuvisieren, spannt Ezechiel mit dem Ältesten-Begriff einen Bogen von der alten Tradition der Sinai-Offenbarung zur gegenwärtigen Krise des Exils. Die Menschen, an die sich Ezechiel richtet, vermögen die damit verbundene Aufgabe nicht, oder noch nicht zu erfüllen, aber es ist doch der Maßstab, an dem sie gemessen werden müssen, wenn je eine Umkehrung der Situation zum Besseren, ein zweiter Exodus möglich werden soll. Gleichzeitig ist sogar im Exil, fern der Heimat und des Tempels, eine der Sinai-Offenbarung vergleichbare Erfahrung möglich, wie Ez 11,16 zeigt, wenn Gott sich selbst als im Exil gegenwärtiges Heiligtum bezeichnet. Der Prophet will dabei genauso wenig wie Mose für sich allein bleiben, sondern hängt von der Mithilfe verständnisbereiter Mit-Propheten ab, und beurteilt die, die bei ihm in Anschluß an Num 11,29 Älteste heißen, gemäß diesem Anspruch, wie er auch in der offiziellen Sitz-Haltung zum Ausdruck kommt. 86
Der Relativsatz ( 12c ) mit den Ältesten als Subjekt ist als Nominalsatz formuliert mit dem Partizip Qa /
- „machend“. In der Vision werden die Ältesten gewissermaßen auf frischer Tat ertappt, bei dem, was sie gerade in diesem Augenblick treiben und tun. Das so völlig unbestimmt gelassene Tun weist zurück auf den vorhergehenden V. 11, in dem es näher beschrieben wurde: mit Weihrauch in den Händen erzeigen sie geritzten Götzenbildern göttliche Verehrung. Der Charakter des Ertapptseins wird gesteigert durch die adverbialen Hinzufügungen, die die Heimlichkeit des Tuns beschreiben. Es geschieht
- „im Finstern“ ( 12c ); offensichtlich, damit es nicht von andern gesehen wird. Diese Finsternis, deren Vorhandensein Gen 1,2 noch vor der Erschaffung des Lichtes einfach feststellt, wird sonst auch wie etwas behandelt, das sich mehr zufällig einstellt und so fast unausweichlichen, schicksalhaften Charakter trägt. 87Auch sonst erscheint diese Finsternis als etwas, in dem Menschen sich unfreiwillig befinden, aus dem sie befreit werden möchten. So taucht es bei Deuterojesaja in den Gottesknechtsliedern, etwa Jes 42,7 und 49,9, als Metapher für Gefängnis, bzw. gefängnisähnliche Situationen auf. Spr 2,13 unterscheiden dagegen ganz im moralischen Sinne des Zwei-Wege-Modells die „Pfade der Geradheit“ von den „Wegen der Finsternis“. Wird hier die Finsternis geradezu als Metapher für die Verwerflichkeit selbst benutzt, ist die Finsternis in Ez 8,12 doch eher etwas, das das schlechte Treiben nur begleitet. Insofern bleibt noch Ijob 24,16 die nächste Parallele, die beschreibt, wie die Bösen die „Finsternis“ aufsuchen und das Tageslicht meiden. Somit dient in Ez 8,12 ganz ähnlich wie in Ijob 24,16 die „Finsternis“ dazu, die gewollte Heimlichkeit eines schlechten Tuns zu beschreiben. Nur daß die Verfehlung der Ältesten in Ez 8,12 mehr liturgisch-sakraler als sozialer Natur ist. Die Finsternis läßt aber auch eine andere Deutung zu, wenn sie als notwendiger Bestandteil des von Odell beschriebenen Ritus verstanden wird, wonach sie den Aufgang der mit JHWH identifizierten Sonne besonders wirkungs- und stimmungsvoll gestalten sollte. 88
Читать дальше