Dagegen kann sich Zurückhaltung zu Wort melden. Diese ist begründet in der heutigen, gegenüber derjenigen der Edith Stein wesentlich veränderten Situation. Der theologisch andere Ort, vom dem aus ein heutiger Blick auf das Werk unserer Autorin blickt, ist derjenige einer Theologie „nach Auschwitz“, wie auch immer man diesen Ort theologisch näher qualifizieren und von seiner Bedeutung her situieren will. 9Sind die Worte, so kann man sich nachdenklich fragen, die Edith Stein unbefangen wählt, um vom Loben, Danken, Anbeten zu sprechen, von „sehr stiller Freude“, nach 1945 überhaupt noch in der Form ungebrochen zu verwenden? Sind sie noch stimmig? Es kann der Gedanke aufkommen, dass eine solche Diktion angesichts des brutalen Todes dieser Frau – und mit ihr 10der ungezählten 11Menschen, die zum Teil als Kinder 12ihr Leben lassen mussten – ein Ausweichen vor dem Unfassbaren wäre. Man kann sich fragen: Übertönt nicht dieser grauenhafte 13Tod gleichsam mit einem überlauten schrillen Ton und Schrei alles, was bei Edith Stein in leisen Tönen anklingen möchte? Ist somit jene Harfe der menschlichen Seele, von der Edith Stein in obiger Rezension bildhaft spricht, nicht doch eine grundlegend andere geworden in Auschwitz? Das Gedichts „Ein Lied vom letzten Juden“ von Jizchak Katzenelson rückt jedenfalls eine Harfe in den Blick, die gänzlich anders gestimmt ist. Entstanden ist die Lyrik des weißrussischen Dichters und Dramatikers vom 3.–5. Dezember 1943 im KZ Vittel. Ein Jahr vor seinem Tod im KZ Auschwitz formuliert er: „Sing, Nimm / die hohle, ausgehöhlte Harfe. Qual / Durchpulst / die dünnen Saiten. Wirf die Finger, bang / Wie Herzen schwer, / auf sie. Dann: sing ein letztes Mal. / Sing. Sing / des letzten Juden letzten Grabgesang.“ 14Eine heutige Rede vom Gebet der Edith Stein wird vor dem Hintergrund des Dargelegten dann in einem unvermeidlichen Sinne falsch und insgesamt abwegig, wenn sie obigen, von Leid geprägten, schrillen Ton ausblendet und von ihm absieht. Denn er mischt sich für jeden heutigen Interpreten unabweisbar in das, was bei Edith Stein in den geistlichen Texten Ausdruck sucht und vor ihrem Tod in Auschwitz zu Papier gebracht wurde. In jedem Fall scheint dem Verfasser der vorliegenden Studie unmöglich, dass ein interpretierendes Interesse auf die geistliche Lyrik der Karmelitin hinblickt, ohne stets den geschichtlichen Kontext zu beachten, in dessen Licht sie dem heutigem Auge „nach Auschwitz“ unumgänglich erscheinen und zu Gesicht kommen muss. Daher wird den Bedingungen einer Gebetstheologie nach Auschwitz im Verlauf der Studie Augenmerk geschenkt. Vorblickend kann für die Studie insgesamt festgehalten werden: Das Beten Edith Steins in Worten darzustellen und auszulegen, das wird wesentlich und zuinnerst zurückhaltend geschehen müssen, in einer Sprachgeste diskreten Interesses. Gerade darin jedoch kann die sprachliche Darstellung sich als geschichtlich situiert und sensibilisiert erweisen. Überschwängliches Pathos ist dieser Sprachgeste fremd. Ein sprachlicher Duktus, der den geschichtlichen Standort vergisst, wird unmöglich. Was Paul Celan für die lyrische Rede formuliert, das bleibt auch für die in dieser Studie gesuchte theologische Rede beachtenswert: „Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache. Sie, die Sprache, blieb unverloren; ja, trotz allem. Aber sie musste hindurch gehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Antwort für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ‚angereichert‘ von all dem.“ 15
Eine Gebetstheologie, die auf Edith Stein hinblickt, ist somit zu einer „verhaltenen“ Weise des Sprechens gerufen, die gerade darin geschichtlich „angereichert“ in Erscheinung tritt. In dieser Frage kann Bernhard Welte bezüglich der theologischen Diktion als Modell gelten. An seinem Werk fällt auf, dass in seiner philosophischtheologischen Rede das Moment der „Verhaltenheit“ das Arrangement seiner Worte und Gedanken wesentlich prägt. Dieses Moment scheint mir eine sprachliche Geste der Diskretion zu sein, die aus der Berührung mit der menschlichen Verfasstheit und deren Charakter eines Geheimnisses ebenso herrührt wie aus der Nähe zum Mehr- als-Menschlichen. Insofern ist es eine ursprünglich „fromme“, von Ehrfurcht orientierte Sprachform, die im Werk und Vortrag Bernhard Weltes erkennbar wird. Bernhard Casper bemerkt zu seinem Sprachstil: „Es ist sicher einer der wichtigsten Leistungen Bernhard Weltes, daß er einen neuen Stil des theologischen Denkens und Sprechens geschaffen hat. Wir können diesen Stil den Stil der Verhaltenheit nennen. Oder auch den Stil der Scheu . Sprechen geschieht hier so, daß es in dem, was es vorbringt, zugleich Zeugnis ablegt von dem Verhältnis des Sprechenden zu dem unendlichen und die Geschichte einfordernden Geheimnis, von dem der Sprechende zu sprechen hat.“ 16Darin darf eine Entsprechung zu Edith Stein gesehen werden. In ihrem Kommentar zur geistlichen Lyrik ihres Ordensvaters Johannes vom Kreuz schreibt sie: „Die Seele ist der Nacht entronnen. Was nun in ihr vorgeht, das ist viel mächtiger, als alle Worte es sagen können.“ 17Daraus ergibt sich für die Karmelitin: „So können auch wir nur mit heiliger Scheu diesen göttlichen Geheimnissen im Innersten einer Seele nahen.“ 18Meine Studie versucht in allen Worten und Überlegungen dieser Scheu nicht im Wege zu stehen, sondern sie vielmehr zu artikulieren und einen Sinn für ihre wertfühlende Bedeutung und Angemessenheit zu wecken.
Dass eine noch näher zu qualifizierende Rede vom Gebet überhaupt möglich ist, und zwar auch eingedenk dessen, was in den Lagern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft geschehen ist, das legitimiert vor allem unserer Autorin selbst. Sie selbst ist es, die noch in Gefangenschaft – täglich bedrängt von unsäglichem Leid bei sich und anderen – vom Gebet schreibt, und zwar ihrem eigenen. Hastig geschrieben sind entsprechende Sätze aus der Baracke 36 im Lager Westerbork das letzte schriftliche Zeugnis von ihr, das heute noch erhalten ist. Auf einem kleinen Zettel, flüchtig an die Priorin in Echt adressiert und erkennbar in Eile geschrieben, bittet sie am 6. August 1942, also drei Tage vor ihrem mutmaßlichen Tod in einer Gaskammer: „Ich hätte gern den nächsten Brevierband (konnte bisher herrlich beten)“. 19
Das Adjektiv „herrlich“ liest man mit nachdenklicher Beachtung. Umso mehr, wenn man im Blick behält, dass die Ordensfrau zur Zeit der Abfassung dieser Zeilen ein tief trauernder Mensch war, dem die Aporie der Gefangenschaft hellsichtig einleuchtete. Einer Mitinhaftierten im Lager Amersfoort erscheint die Karmelitin in jenen Tagen gar wie eine „Pieta ohne Christus“. Johannes Hirschmann SJ, der Edith Stein im Karmel Echt in den Jahren vor ihrer Verhaftung wiederholt getroffen hatte, gibt diese Zeugenaussagen wieder: „Es gibt einige Berichte von letzten Begegnungen mit ihr im holländischen Konzentrationslager. Zwei Worte sind mir dabei vor allem unvergesslich geblieben. Das erste Wort von dem Eindruck, den sie im Lager machte: Viele der jüdischen Mütter, die mit ihr verhaftet worden waren, lebten ganz in der Not und Verzweiflung jener Tage – so sehr, daß sie fühllos wurden angesichts des Leids ihrer eigenen, mit ihnen im Lager gequälten Kinder. In dieser Situation, da übernahm diese beschauliche Schwester jene kleinen alltäglichen Dienste an Menschen in Not und Verzweiflung, die selbst in solchen Stunden das Zeichen und die Bewährung großer Liebe sind. Ein zweites Wort sagte eine Frau von dem Eindruck, den sie damals auf sie machte: Sie kam ihr vor wie die Pieta unter dem Kreuz, aber ohne den toten Sohn auf dem Schoß.“ 20
Читать дальше