Diese drei Akteure: ein offensiver bis militanter Islam, ein neokonservatives bis fundamentalistisches Christentum und ein polemischer Atheismus haben einen starken Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung von Religion. Sie prägen das Bewusstsein von der religiösen Gegenwartssituation in einem Maße, die ihre reale Verankerung in der Bevölkerung um Längen übertrifft. Nur etwa vier Prozent der westdeutschen Bevölkerung gehören dem Islam an, und davon ist nur eine deutliche Minderheit islamistischen Strömungen zuzurechnen. Auch der christliche Fundamentalismus ist in Deutschland ein Minderheitenphänomen, selbst wenn sich dies aus der subjektiven Sicht kirchlicher Insider vielleicht etwas anders darstellen sollte. Der dezidierte weltanschauliche Atheismus schließlich ist in der westdeutschen Bevölkerung geradezu verschwindend gering ausgeprägt. Wohlgemerkt: in Westdeutschland – in den östlichen Bundesländern, wo es 68 Prozent Konfessionslose gibt (Bertelsmann Stiftung 2009, 103) , sieht dies anders aus. Das wirft die Frage auf: Was ist eigentlich mit dem Rest der Bevölkerung? Wenn diese so auffälligen drei Akteure nur einen sehr kleinen Teil des religiösen Feldes besetzen, wer nimmt dann den Rest dieses Feldes ein?
Damit kommen wir zu einem Phänomen, das aus meiner Sicht nicht weniger aufschlussreich ist als die im Vordergrund stehenden religiösen Konflikte: dem Phänomen einer Gesellschaft, die in religiöser Hinsicht auf eine unbestimmte Mitte hin konvergiert. Ein wenig überspitzt gesagt, ist meine These: So sehr der religiöse Diskurs in der medialen Öffentlichkeit durch hochprofilierte Akteure bestimmt wird, so sehr ist das reale religiöse Leben der Menschen heute durch Unbestimmtheit, Identifikationsprobleme und intermediäre Religiositätsformate geprägt. Mit anderen Worten: Wo früher zwischen Theisten und Atheisten, zwischen Konfessionen und Religionen, zwischen kirchlich Engagierten und religiös Ungebundenen klare positionelle Differenzen bestanden, sind die Grenzen mittlerweile verschwommen. Bei empirischen Untersuchungen zeigt sich: Es hängt mitunter von winzigen Akzentuierungen in der Fragestellung ab, ob ein bestimmter Befragter am Ende dem „Lager“ der Theisten, der Agnostiker oder der Atheisten zugerechnet wird. Dieser wachsenden religiösen Mitte soll die folgende Betrachtung gelten.
Die Zunahme intermediärer Religiositätsformate
Nach einer der wichtigsten in letzter Zeit zur religiösen Gegenwartssituation durchgeführten Untersuchungen, dem Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung (2008) , bezeichnen sich 58 Prozent der Menschen in Westdeutschland als religiös (Bertelsmann Stiftung 2009, CD 37) . Nun kann man natürlich fragen: Was bedeutet das? Was steckt hinter dieser Selbsteinschätzung? Aber zunächst einmal ist diese Zahl, gerade in Anbetracht einer diagnostizierten „Gottesverdunstung“ (vgl. Mette 2009) , einfach erstaunlich. Wenn man von diesen 58 Prozent nun jene kleine Minderheit von 7 Prozent abzieht, die sich für „sehr religiös“ hält, kommt man zu jener großen Menge von Menschen, die ich als die religiöse Mitte bezeichnen würde. Diese Mitte ist durchaus kein Einheitsbrei, denn dort finden sich sowohl Kirchenmitglieder als auch Konfessionslose. Es finden sich dort Kirchenmitglieder ohne starke religiöse Überzeugungen und Konfessionslose mit ausgeprägten religiösen Bedürfnissen. Das heißt, es gibt hier sowohl, was die britische Religionswissenschaftlerin Grace Davie „belonging without believing“ nennt, als auch das anscheinend umgekehrte Muster eines „believing without belonging“, frei übersetzt: einer Religiosität ohne Religionszugehörigkeit (vgl. Davie 1994) . Das sind typische Ausprägungen dessen, was ich ein intermediäres Religiositätsformat nennen möchte: Formate, die eigentlich in die überkommenen Kategorien religiöser Klassifizierung nicht passen, die irgendwo und irgendwie dazwischen liegen, die teilweise überhaupt kein klares Profil erkennen lassen. Dass diese Formate zunehmen, ist meines Erachtens das zentrale Kennzeichen unserer religiösen Situation. An einigen exemplarischen Ausprägungen möchte ich zu zeigen versuchen, welcher Art diese religiöse Mitte ist.
Ein religionsfreundliches Kulturchristentum
2007 hat Jürgen Habermas in der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) einen interessanten Artikel geschrieben. Titel: „Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Über Glauben und Wissen und den Defaitismus der modernen Vernunft“. Dort fragt er sich, wie mit dem Erbe der großen Weltreligionen umzugehen sei, „die als das sperrigste Element aus der Vergangenheit in diese Moderne hineinragen“. Schon in dieser Frage stecken zwei Thesen: Erste These: Die großen Weltreligionen sind heute im Wesentlichen Geschichte, Erblasser. Zweite These: Um der Zukunft der Moderne willen muss die Frage nach dem Wert des religiösen Erbes gestellt werden. Wie schon in seiner viel zitierten Büchnerpreisrede macht Habermas auch hier deutlich, dass das religiöse Erbe Momente enthalte, die nicht verloren gehen dürften. Es gehe im fortschreitenden Prozess gesellschaftlicher Entwicklung nicht darum, religiöse Traditionsgehalte auszuscheiden, als vielmehr darum, sie zu transformieren .
Eine mögliche Form einer solchen Transformation des religiösen Erbes ist, was ich hier als „religionsfreundliches Kulturchristentum“ ansprechen möchte. Beispiel: Der Mainzer Germanist Hermann Kurzke , unter anderen auch ein großartiger Exeget kirchlichen Liedguts. Kurzke bezeichnet sich als „religiösen Ästheten“. Er schreibt: „Der religiöse Ästhet erhebt nicht den Anspruch, den alten substantiellen Glauben wiederherzustellen und unumstößliche Gewissheit im Leben und Sterben zu geben. Sein Ziel ist bescheidener. Er fragt, ob es nicht förderlicher sei, die abendländischen Mythen zu pflegen (auch den Sonntag vor der Gier der Ökonomen zu beschützen), anstatt den Acker unbestellt zu lassen. An der alten christlichen Liturgie teilzunehmen hält er für besser als aufgeklärt zu verstummen. ‚Piété sans la foi‘ (Ernest Renan) , Frömmigkeit ohne Glauben: er sieht darin eine paradoxe Möglichkeit. Er will nicht auf die Kultur verzichten müssen, die im Glauben steckt. Wo er keine eigene Sprache mehr erzeugt, zum Beispiel im Bereich der Eschatologie und der Kultur des Sterbens, schlägt er vor, die alte Sprache wenigstens im Zitat zu bewahren. Was gibt es Besseres, als am Grabe der Mutter zu sprechen: ‚Herr, gib ihr die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihr‘“ (Kurzke/Wirion 2005, 25) .
Kurzke versucht also im Zitat zu retten, was er in der Substanz für verloren hält. Ich denke, damit geht er in die Richtung dessen, was auch Habermas mit seinem Vorschlag einer Transformation des religiösen Erbes vorschwebt. Ja, er geht sogar noch ein ganzes Stückchen weiter, und mitunter kann man sich fragen, was sein Kulturchristentum von einem substantiellen Glauben eigentlich trennt. Vielleicht müssen wir auch gar nicht genau wissen, wo das schöne Zitat aufhört und wo der „echte“ Glaube anfängt und wo Kulturarbeit umschlägt ins Gebet. Der von Kurzke repräsentierte Religiositäts-Typus scheint mir unter der Spezies der Kulturschaffenden jedenfalls durchaus verbreitet zu sein.
Natürlich wird jeder dieser Menschen beanspruchen, ein Sonderfall zu sein – und dies selbstverständlich völlig zu recht. Gleichwohl gibt es doch deutliche Familienähnlichkeiten in diesem Feld des religionsfreundlichen Kulturchristentums. Und manchmal staunt man, wer hier alles auftaucht. Beispielsweise der Philosoph und Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz. Bolz hat sich noch vor wenigen Jahren ziemlich herablassend über die Sinnlosigkeit der Sinnfrage amüsiert. (vgl. Bolz 1997) Nun schreibt er: „Fast 2000 Jahre lang haben fast alle intelligenten und gebildeten Menschen unserer europäischen Kultur die Frage nach dem christlichen Gott durchdacht und durchlitten; ob apologetisch, ob kritisch gleichviel. Jeder ernst zu nehmende Gedanke ist Metaphysik, und jede Metaphysik ist säkularisierte Theologie. Sich aus diesem Traditionszusammenhang herausreflektieren zu wollen, ist geistiger Selbstmord“ (Bolz 2008, 137). Bolz erklärt, es gebe „einen Glauben […], der auch den trägt, der nicht hoffen kann, ein Christ zu sein. Das ist der Glaube an den einzigartigen Wert der von Griechentum und Christentum geprägten europäischen Kultur. […] In diesem Sinne plädieren wir hier für eine ernste Arbeit an der objektiven Religion, d.h. dem Kultur gewordenen Christentum […]. Dieser Weg steht gerade auch dem religiös Unmusikalischen offen“ (Bolz 2008, 138f) .
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