Mit dem Beginn der Sekundarstufen nimmt die Ausdifferenzierung in Fächer und Fächergruppen zu, die auch mit der Diversifizierung sprachlicher Anforderungen verbunden ist, d.h. mit dem Ausbau fach- und bildungssprachlicher Kompetenzen im Mündlichen und Schriftlichen sowie dem Lernen weiterer Sprachen. Der Unterricht in den Sekundarstufen baut darauf auf, dass basale literale Kompetenzen bei allen Schüler*innen vorhanden sind, dass der Zugang zu Texten und Medien, in denen die wesentlichen Inhalte jedes Faches dargeboten werden, eingeübt wurde und dass grundlegende Arbeitsformen für das fachliche Lernen vorausgesetzt werden können. Viele Fächer und gerade jene, die im Fokus dieses Studienbuches stehen, werden jedoch in der Sekundarstufe I in der Regel erstmalig angeboten, so z.B. Geschichte, Geographie, Politik und Philosophie. Die jeweiligen Fachsprachen und fachspezifischen Texte und Genres wurden – jedenfalls für diese Fächer – noch nicht in der Grundschule erarbeitet, was es umso wichtiger macht, sprachliche Bildung in den Sekundarstufen fortzusetzen.
Im Kontext von Migration und Bildung hält das stark gegliederte Schulsystem immer wieder Hindernisse und Benachteiligungsrisiken für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, mit geringem sozioökonomischem Status und im Zweitspracherwerb Deutsch bereit. Geist/Krafft (2017) sehen hier unter Bezugnahme auf den Bildungsbericht des Jahres 2016 sowie auf die grundsätzliche migrationspädagogische Kritik von Mecheril (2004) eine Ungleichheit produzierende Praxis und „Bildungsbe nach teiligung statt Bildungs be teiligung“ (Geist/Krafft 2017, 13). Diese ist auch an der Verteilung von Schüler*innen auf unterschiedliche Schulformen erkennbar:
Während deutsche Jugendliche im Schuljahr 2014/15 fast zur Hälfte am Gymnasium sind (rund 44 %) und nur zu 8 % an Hauptschulen, besucht lediglich knapp ein Viertel (24 %) der ausländischen Jugendlichen das Gymnasium und ein weiteres Viertel (25 %) die Hauptschule […]. Betrachtet man statt der Staatsangehörigkeit den Migrationshintergrund und statt der Schularten die Bildungsgänge, sind Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund unter Berücksichtigung des sozioökonomischen Hintergrunds im Jahr 2012 zu vergleichbaren Anteilen in den Bildungsgängen vertreten […]. (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, 173f.)
Mit den Bezeichnungen ‚Schüler*innen im Seiteneinstieg‘ bzw. ‚Seiteneinsteiger*innen‘, die bereits seit den 1970er Jahren Verwendung finden, kann besonders deutlich gemacht werden, worin diese Herausforderungen neben dem Spracherwerb zusätzlich bestehen. In der Geschichte des bundesdeutschen Bildungswesens geht die Beschulung von Seiteneinsteiger*innen, also Kindern und Jugendlichen mit anderen Erstsprachen als Deutsch, bis in die Zeit der Arbeitsmigration in die Bundesrepublik der 1960er und Folgejahre zurück (mehr dazu u.a. in Reich 2010, 2017). Aktuelle Definitionen von ‚Seiteneinsteiger*in‘ führen das schulpflichtige Alter von sechs oder mehr Jahren, in dem Kinder und Jugendliche nach Deutschland migrieren, die nicht vorhandenen oder sehr geringen Deutschkenntnisse (Massumi et al. 2015) und den Beginn der Schullaufbahn in einem anderen Land (Maak 2014) an. Insbesondere trifft die Bezeichnung als Seiteneinsteiger*in auf Schüler*innen der Sekundarstufen zu, wie das folgende Beispiel aus Geist/Krafft (2017) zeigt (wobei die Autor*innen an dieser Stelle den Ausdruck nicht verwenden):
KARIM ist 17 Jahre alt, er kam als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling vor einem Jahr nach Deutschland. In seinem Herkunftsland Afghanistan hat er die neunjährige allgemeinbildende Schule besucht; dabei hat er sprachliche Kompetenzen in mündlicher und schriftlicher Form nicht nur in seiner L1 Dari, sondern auch in der Fremdsprache Englisch erworben. Momentan besucht er die 9. Klasse einer Werkrealschule. KARIM hat in den vergangenen 12 Monaten bereits einige Spezifika der deutschen Sprache erworben […]. Er hat […] noch Schwierigkeiten, dem Unterricht in sprachlicher Hinsicht zu folgen. Andererseits ist er in einigen Bereichen (vor allem im Englischen, aber auch in den naturwissenschaftlichen Fächern) seinen Klassenkameraden weit voraus. (Ebd., 20)
Mit dem Begriff ‚Seiteneinsteiger*in‘ wird versucht, potentiell benachteiligende individuelle Merkmalsbezeichnungen, wie ‚Migrationshintergrund‘, ‚Deutsch als Zweitsprache‘ oder ‚mangelnde Deutschkenntnisse‘ es z.B. sein können, nicht in den Vordergrund zu stellen. Dabei ruft die Redeweise vom Seiteneinstieg das Bild eines funktionierenden Schulsystems auf, das aus unterschiedlichen Gründen nicht von Beginn an durchlaufen wird. Beschulungskonzepte von Seiteneinsteiger*innen sind in der Regel Konzepte des Übergangs von Schüler*innen aus Klassen mit dem Fokus auf Sprachlernprozessen (Deutsch) in Klassen des (überwiegend deutschsprachigen) Regelunterrichts (Regelklassen). Aber auch der Übergang von einer Schulform in die nächste ist von entscheidender Bedeutung für die weitere biographische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, die als Seiteneinsteiger*innen in das deutsche Bildungssystem eintreten (vgl. Birnbaum et al. 2018 und weitere Beiträge in von Dewitz/Terhart/Massumi 2018 sowie Titz et al. 2017 und Titz et al. 2018).
Ahrenholz/Fuchs/Birnbaum (2016) führen nach dem Vergleich der Beschulungs- und Übergangspraxis in 51 Sekundarschulen fünf verschiedene Modelle der Beschulung von Seiteneinsteiger*innen auf. Modell A umfasst eine dem Regelunterricht vorgeschaltete Sprachlernklasse (Vorbereitungsklasse), in Modell B ist diese sprachliche Vorbereitung bereits durch fachliche Inhalte angereichert (Fachunterricht, Vorbereitung auf Berufsschulabschluss). Modell C umfasst drei Varianten der Teilintegration (sukzessiv mit vorgeschalteter Vorbereitungsklasse, direkt mit sukzessivem Übergang, direkt mit festem Übergangszeitpunkt). Eine Vollintegration ohne bzw. mit integrativer bzw. additiver DaZ-Förderung oder einer Kombination aus diesen Maßnahmen entspricht dem Modell D. Ein letztes Modell E kommt als paralleles Beschulungsmodell gänzlich ohne Übergangskonzeption aus. Diese Klassifikation entspricht weitgehend den in Massumi et al. (2015, 45) dargestellten schulorganisatorischen Modellen für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche und ihrer Unterscheidung in submersiv, integrativ mit Sprachförderung, teilintegrativ mit Sprachförderung und parallel, je nachdem, in welchem Grad neu zugewanderte Schüler*innen am sog. Regelunterricht teilhaben (submersiv = volle Beteiligung, parallel = keine Beteiligung).
Die hier in aller Kürze benannten schulorganisatorischen Konzepte der Ermöglichung der Wahrnehmung der Schulpflicht für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche ab bzw. über sechs Jahren und mit nicht oder kaum vorhandenen Deutschkenntnissen bilden die Grundlage für den (mehr oder weniger) erfolgreichen Spracherwerb, das (mehr oder weniger) systematische Deutschlernen im Schulsystem und für die Möglichkeit der (mehr oder weniger) erfolgreichen Teilhabe am Fachunterricht.
Innerhalb dieser Konzepte vollziehen sich eine Vielzahl individueller Sprachlern- und Spracherwerbsprozesse des Deutschen als Zweit-, Dritt- oder Folgesprache bzw. des Deutschen als Fremdsprache, die einerseits gewissen Regelmäßigkeiten unterliegen. Andererseits werden diese Prozesse von einer Vielzahl innerer und äußerer Faktoren beeinflusst. Zu diesen Einflussfaktoren gehören das Alter der Kinder und Jugendlichen, der Beginn des Deutscherwerbs, die Kontaktdauer mit dem Deutschen (Geist/Krafft 2017, 18), aber auch der in den Sprachlernklassen gegebene Input, die gewählte Unterrichtsmethodik, die Möglichkeiten zur Sprachverwendung außerhalb des Unterrichts durch teilhabeorientierte Aktivitäten etc. (siehe auch 1.5 in diesem Studienbuch). Dennoch befindet sich die Forschung zu Spezifika des DaZ-Spracherwerbs von Jugendlichen im Vergleich zum frühen DaZ-Erwerb von Kindern noch am Anfang (Ahrenholz/Grommes 2014). Die fortgeschrittene Sprachentwicklung hängt eng mit der Entwicklung von schriftsprachlichen Fähigkeiten zusammen (ebd., 4), was in der Forschungslandschaft zu diesem Themenfeld laut Ahrenholz/Grommes zwei Hauptstränge zur Folge hat:
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