Dennoch symbolisiert die mittelalterliche Gesellschaft diese Vielfalt nicht im positiven Sinne als Diversität. Zwar verfügen mittelalterliche Theologen und Philosophen, Geschichtsschreiber und Juristen durchaus über differenzierte Begriffe, mit denen sie Vielfalt (lat. diversitas , varietas , pluralitas , multitudo und multiformitas , wörtl. auch multiplicitas ), Verschiedenheit (z.B. variatio , disparitas ) oder Vorgänge der Vervielfältigung (z.B. plurificatio ) bezeichnen.24 Anknüpfend an die Differenztheorien platonischer und aristotelischer Tradition systematisierten diese Begriffe nicht nur metaphysische Wesensverschiedenheit und zahlenlogische Vielheit ( diversitas numeralis ), sondern ebenso die Vielfalt geschaffener Dinge ( diversitas rerum ), sie galten der Meinungsvielfalt ( diversitas opinionum ) bis hin zu geistigen Operationen des Unterscheidens ( distinctio oder diversitas rationis ). In der Regel blieben solche Begriffe von Vielfalt jedoch auf komplementäre Konzepte von Einheit oder Einfachheit zurückbezogen, die keineswegs ein wertneutrales Begriffspaar bildeten. Während Einheitskonzepten in logischer und ontologischer Hinsicht zumeist höhere Dignität zukam, galt Vielfalt als davon abgeleitet und abhängig. Von Boethius und Isidor von Sevilla über Thierry von Chartres und Thomas von Aquin bis zu Nicolaus Cusanus bestand weitgehender Konsens: Vielzahl geht aus Einheit hervor oder mündet in Einheit,25 die Vielfalt der Dinge verweist auf einheitliche Ordnung als Absicht ihres Schöpfers,26 Varietäten sind in der Einheit ihrer Gattung verbunden. Wenn die Einheit der Welt in Vielfalt erfahrbar ist ( unitas in pluralitate ), so betrachtet Nicolaus Cusanus dies nicht als Reichtum sondern als schrittweise Einschränkung.27 Im gesamten Mittelalter klingt in philosophischen und theologischen Argumentationen ein »Ressentiment« an, das diversitas geradezu topisch mit Falschheit, Verworrenheit und Zwietracht in Verbindung brachte, wie Stephan Meier-Oeser bilanziert: »Während die Assoziation der Einheit mit positiv verstandenen Korrelativbegriffen sich bis in die jüngere Vergangenheit weitgehend konstant durchhält, erscheint die Bewertung der [Vielheit] seit jeher als ambivalent.«28 Diesen Eindruck einer ambivalenten Begriffsgeschichte teilt auch die mediävistische Geschichtswissenschaft bis in jüngste Zeit:
Im Mittelalter selbst war der Begriff des Einen und der Einheit gegenüber der Vielheit deutlich positiver besetzt. Mit ihm wurde der Geist und die Seele assoziiert, die Wahrheit und die Güte, die Ordnung und das Ganze, Liebe und Frieden, die Ähnlichkeit und das Universum. Pluralitas und multitudo belasteten indessen vorwiegend ungünstige Konnotationen, durch die sie, und zwar schon seit der Antike, zur ›Einheit‹ in deutlichen Kontrast gerieten. Die negativen Entsprechungen der Vielheit lauteten auf Verworrenheit und Zwietracht, Falschheit, Andersheit, Teilbarkeit, Bewegung, Materie und so weiter. […] Trotz der unbestreitbaren Höherschätzung des Einen und der Einheit wussten die Philosophen und Theologen des Mittelalters, dass Vielheit natürlich gegeben und unvermeidlich ist. […] Die Verschiedenheit ( diversitas ) des Besonderen konnte durch ihre Differenz aber durchaus zur positiv bewerten ›Vielfalt‹ ( varietas ) führen, die mit Schönheit, ja Vollkommenheit verbunden wurde.29
Festzuhalten ist damit zweierlei. Zum einen fehlte es also keineswegs an systematischen Diskursivierungen von Vielfalt im Mittelalter, im Gegenteil: Selbst schwankende Bewertungen, die das asymmetrische Begriffspaar provozierte, bezeugen intensiv geführte Auseinandersetzungen um Vielfalt und Einheit. Der springende Punkt scheint mir jedoch zu sein, dass derartige Konzepte von diversitas kaum positiven Raum für Unbestimmtheit eröffneten – für »unaufgelöste Vielheit«,30 die nicht zugleich von Gesichtspunkten der Einheit bestimmt ist.31
Trotz reicher Debatten und systematischer Diskursivierungen plädieren Texte des Mittelalters selten für Relativismus oder Pluralismus der Ordnungen. Sie bleiben stattdessen weitgehend auf integrative Semantiken eingeschworen, die Erwartungen an logische, metaphysische oder funktionale Einheit mit sich führen.32 Die ältere geistesgeschichtliche Forschung hatte aus diesem Grund die mittelalterliche Gesellschaft vom »Princip der Einheit« her beschrieben,33 das zwar Übertragung, nicht aber Teilung und Vervielfältigung von Herrschaft zulasse.34 Für die jüngere Sozialgeschichte erwuchs daraus das Problem, offenkundige Diskrepanzen zwischen der »realen Vielfalt« mittelalterlicher Lebenswirklichkeiten und den »noch starrer geprägt[en]« Modellen typischer Lebensformen zu beschreiben.35 Beamte und Gelehrte, Handwerker und Kaufleute – sie und andere mehr bilden neue soziale Gruppen in Bewegung, ohne dass deshalb Ständeordnungen des Hoch- und Spätmittelalters vom traditionellen Grundmodell der dreigeteilten Gesellschaft abrücken.36 Wenn Zeitgenossen reflektieren, »daß es Lebensformen in der Mehrzahl geben müsse«,37 manifestiert sich die »Pluralisierung der Lebensformen« selten in mimetischer Abbildung veränderter Lebenswirklichkeiten; was öfter greifbar wird, sind »Widersprüche« ihrer textuellen Artikulation.38
Diese Widersprüche haben ihren Grund nicht zuletzt darin, dass Selbstbeschreibungen der mittelalterlichen Gesellschaft nicht gleichermaßen aus sämtlichen Sphären bzw. Schichten überliefert sind. Vorrangig werden sie von einer Schriftpraxis getragen, die religiösen Institutionen verpflichtet ist, wie Jan-Dirk Müller unterstrichen hat:
Man hat gelernt, die Pluralität und die Antagonismen der mittelalterlichen Kultur zu lesen. An der Dominanz der christlichen Religion, der geistigen Führungsmacht der Kirche und der Prägung der literarischen Kultur durch die schriftkundigen clerici besteht aber kein Zweifel.39
Noch die jüngste Forschung beschäftigen somit Widersprüche, Verwerfungen und Lücken zwischen hegemonialen Selbstbeschreibungen und den historischen Realitäten sozialer Vielfalt, die seit dem Hochmittelalter beschleunigt wachsen. Zwar lässt sich keineswegs mehr vertreten, »die abendländische Christenheit« wäre »regelrecht besessen von der Vorstellung einer notwendigen reductio ad unum in allen Bereichen und auf allen Ebenen«, womit »Vielfalt in die Nähe des Bösen« gerückt wird.40 Ebenso verkürzend wäre es, lediglich von einer Vielzahl »vormoderne[r] kleine[r] Gemeinschaften« auszugehen, »die für die meisten ihrer Mitglieder die Universen waren, in die das Ganze ihrer Lebenswelt eingeschrieben war«.41 Unübersehbar sind vielmehr die Diskrepanzen: Zwischen programmatisch artikulierten Einheitsansprüchen und realer Vielfalt klafft ein ›semantic gap‹.42
Diese Kluft ist nicht allein auf Überlieferungslücken zurückzuführen, sondern betrifft ein positives Darstellungsproblem von Vielfalt. Es prägt und belastet besonders solche Texte, die diese Kluft ausdrücklich zu überbrücken versuchen, wie ein berühmter Sangspruch Frauenlobs andeuten mag. Er wird oft als Stimme literarischer Gesellschaftsreflexion zitiert, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auf die wachsende Vielfalt von Lebensordnungen antwortet:43
In driu geteilet waren
von erst die liute, als ich las:
buman, ritter und pfaffen.
ieslich [] nach siner maze
gelich an adel und an art
dem andern ie. stet der pfaffen sin?
Sie leren wol gebaren,
kunst, wisheit, aller tugent craft,
fride, scham und darzu forchte
die ritterlichen ritterschaft.
der buman hat sich des bewart,
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