Immer deutlicher zeichnet sich jedoch ab, dass damit Gewinne und Schwierigkeiten zugleich erkauft sind. Als fruchtbar erwiesen sich kulturwissenschaftliche Öffnungen, wenn damit nicht nur Grenzen überschritten, sondern Beobachtungszonen angereichert wurden. Problematisch erwies sich diese Vervielfältigung, sofern nicht im selben Maß reflektiert wird, inwiefern die Gegenstandsbereiche solcher Pluralisierung standhielten. Dadurch wuchsen blinde Flecke zwischen Forschungsoptik und Gegenständen, die nicht nur die Beschreibungsleistungen kulturwissenschaftlicher Forschung ermöglichen, sondern auf unbehagliche Weise auch einschränken. Sie bilden den allgemeinen Anlass und die Ausgangslagen (Kap. I.3–5) der vorliegenden Studien.
Dass vormodernes Erzählen einfach und komplex zugleich erscheinen kann, ist also nicht bloß ein Spezialproblem für Mediävisten, sondern könnte nicht zuletzt auch mit Beschreibungsproblemen grundsätzlicher Art zu tun haben. Zumindest können jüngere Theoriediskussionen der Mediävistik den Eindruck nähren, dass kompakte Begriffe wie etwa das ›Leitkonzept der Alterität‹ diese Schwierigkeiten eher verdeckten als analytisch erhellten.45 Auch ließen sich gängige Merkmale komplexer Texte wie Reflexivität und Polyvalenz häufig nur unter deskriptiven Verwerfungen oder negativen Vorbehalten auf mittelalterliche Erzähltexte anwenden.46 Galten besonders komplexe Texte dementsprechend als ›Frühformen‹ von Reflexivität,47 als herausragende Beispiele der ›Dekonstruktion‹48 kultureller Spielregeln oder als literarische Arbeit ›vor dem Zeitalter der Literatur‹,49 so mussten solche Perspektiven mühsam gegen ästhetische Normen und literarhistorische Modernisierungsthesen anschreiben,50 die Komplexität eher zum Argument von Wertzuschreibung als zum Werkzeug präziser Textbeschreibung machten.51
Die folgenden Überlegungen stellen sich dieser Herausforderung im Kontext von Historisierungsschwierigkeiten, welche die kulturwissenschaftliche Mediävistik mit methodischen Prämissen der Pluralisierung übernimmt. Schwierig sind sie, weil sie keineswegs oberflächlich eingehandelt und insofern leicht verzichtbar wären, sondern gewissermaßen zur Arbeitsgrundlage mediävistischer Textwissenschaften gehören. Meine Arbeitshypothese ist demgegenüber einfach: Wenn mittelalterliche Erzählungen einfach und komplex zugleich erzählen, könnten Typen der Vervielfältigung in den Blick treten, die in diesem präzisen Sinne als nicht-kulturförmig zu betrachten wären, insofern sie einen spezifisch modernen Pluralismus des Kulturellen nicht teilen. Doch mit emphatischen Abgrenzungen dieser Art ist natürlich wenig gewonnen: Wie kann man solche Erzählungen zwischen Einfachheit und Vielfalt beschreiben, ohne dafür den Umweg über Negationen zu nehmen? Die komplexen Formen mittelalterlicher Wettkampferzählungen könnten hierzu exemplarische Anregungen liefern, um Pluralisierungsannahmen der mediävistischen Kulturwissenschaften zur Debatte zu stellen. Wie Kulturwissenschaften sich jenen Objekten stellen, die sich kulturwissenschaftlicher Pluralität widersetzen, könnte dann auch über die Mediävistik hinaus zu einer weniger unbehaglichen, dafür aber brisanteren Frage werden.52
2 Unbehagen in den historischen Kulturwissenschaften
Unbehagen artikuliert sich besonders in historisch orientierten Forschungszusammenhängen, die Pluralisierungskonzepte der Kulturwissenschaft entschieden aufgenommen haben.1 So ist auch die Mediävistik einerseits im Gefolge des ›cultural turn‹ gewohnt, von vormodernen Kulturen zumeist im Plural zu sprechen. Erforscht wurden etwa »Kulturen des Performativen«2 oder die »Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter«,3 um nur zwei prominente Forschungsverbünde des letzten Forschungsjahrzehnts zu nennen. Auch im Rahmen von Projekten und Tagungen dient der Plural der ›Kulturen‹ dazu, neue Sachbezüge vergleichend zu organisieren.4 Andererseits ist hinlänglich bekannt – dies ist im nachfolgenden Kapitel ausführlicher nachzuzeichnen –, dass der Kulturbegriff als historisches Pluralitätskonzept erst seit dem späten 18. Jahrhundert zur Verfügung steht, um Vielfalt von Gesellschaften und ihren symbolischen Ordnungen zu vergleichen.5 Statt auf ein generalisiertes, abstraktes Reflexionssymbol wie den Kulturbegriff stützt sich die historische Kulturtheorie daher eher auf Formen der Reflexion, die eng mit konkreten Artikulationen, Praktiken und Materialitäten verbunden scheinen.6 Kulturtheorien als explizite Theorien irreduzibler Verschiedenheit, so ein weitverbreiteter Konsens, suche man in der Vormoderne vergebens. Kultursoziologische Ansätze leiten daraus die These ab, dass die reflexive Beobachtung von Vielfalt ein spezifisch modernes Kennzeichen sei.7 Erst moderne Kulturbegriffe stellten die Anerkennung von »Diversität«8 und »Kontingenz«9 menschlicher Lebensformen und Symbolsysteme programmatisch in den Mittelpunkt. Die pluralistischen Prämissen der Kulturwissenschaften verdanken sich dieser modernen Beobachtungspraxis.10
Für vormoderne Literatur ist diese pluralistische Beobachtung keineswegs vorauszusetzen. Dies unterstreichen zum einen Studien der mediävistischen Literaturwissenschaft, die der Kultursemantik kritisch gefolgt sind. Kreuzzugsepischen Erzählungen wie dem Rolandslied bescheinigt etwa Peter Strohschneider eine normative Asymmetrie von Christen und Heiden, von Eigenem und Anderem, die sich von modernen Kontingenzperspektiven als vor-kulturelle Konfliktordnung abhebe.11 Wie Marina Münkler zum anderen anhand spätmittelalterlicher Reiseberichte demonstriert hat, erweisen sich deren Wissensordnungen wiederum als flexibel genug, um ethnische, anthropologische und soziale Fremdheitserfahrungen zu artikulieren und in Zeichensystemen der Ähnlichkeit zu verorten, ohne sie gänzlich zu ignorieren.12 Der kulturfunktionale Status mittelalterlicher Textlogiken und Semantiken ist daher von Fall zu Fall zu prüfen und lässt sich keineswegs aus Einzelstimmen generalisieren. Mit Blick auf die Forschung lässt sich zumindest festhalten: Zur großräumigen Epochensignatur scheint »Pluralisierung« nach allgemeiner Einschätzung kaum vor dem 15. Jahrhundert zu taugen. Erst mit dem »Entstehen konkurrierender Teilwirklichkeiten«13 in der Frühen Neuzeit wandeln sich »Erfahrungen epistemischer Irritation«14 zum dauerhaften »Pluralismus institutioneller Gefüge«15. Emphatisch zugespitzt heißt dies, erst seit der Renaissance von vielstimmigen Repräsentationsmöglichkeiten von Wirklichkeit auszugehen.16
Doch schon Texte des Hochmittelalters kreisen um alternative Ordnungen und führen vor, dass sich auch anders handeln, anders glauben und anders wahrnehmen lässt. Zunehmende Mobilität von Personen, Kreuzzüge, Reformbewegungen und Fernhandel vervielfältigen die Spannungen und Differenzen ökonomischer, religiöser, wissenschaftlicher oder juristischer Ordnungen ab dem 12. Jahrhundert rasant.17 Auch die mittelalterliche Gesellschaft Europas geht also aus geschichtswissenschaftlicher Sicht faktisch mit Vielfalt um, ihre gelebten Ordnungen sind keineswegs kohärent, einheitlich oder reduktiv.18 Und schon die Geschichtsschreibung des Mittelalters zeichnet solche Differenzen in Gestalt von »unendlich vielen Geschichten im Plural« auf, die kein Kollektivsingular ›der Geschichte‹ eint.19 Zu Recht unterstreichen daher auch literaturwissenschaftliche Studien: »›Die‹ mittelalterliche Kultur ist ein Konstrukt, das es in dieser Homogenität und Ganzheit niemals gibt und nie geben konnte«.20 Wo literarische Texte wie das Nibelungenlied zugleich kulturelle Selbstbeschreibungen liefern, erzählen sie nie von Alternativlosigkeit, sondern immer auch von der Optionalisierung sozialer Ordnung.21 Und selbst kreuzzugsepische Texte wie der Willehalm Wolframs von Eschenbach experimentieren mit symmetrischen Darstellungsformen,22 entfalten »komplexe Überlagerungen« und Hybridisierungsmöglichkeiten, wo die Konfrontation von Christen und Heiden einseitige Ausgrenzungen erwarten ließe.23
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