Der Fokus der Analysen in Kapitel 6 liegt auf der interaktiven Herstellung von Beteiligung in der Interaktion. Es kann an Gesprächsdaten gezeigt werden, wie die Beteiligung von allen Anwesenden aktiv mitgestaltet wird und das Zusammenspiel verschiedener Steuerungsaktivitäten und Design-Aktivitäten (vgl. Schmitt & Knöbl 2014) die Inklusion und Beteiligung der Kinder bzw. Jugendlichen beeinflusst. Zuerst werden Beteiligungsstrukturen bei expliziter Adressierung diskutiert (Kap. 6.1) und schliesslich werden die häufig verwendeten Verfahren der wechselnden und ambigen Referenzen genauer auf die Implikationen hin untersucht (Kap. 6.2).
In Bezug auf die Beteiligungsstrukturen sowie die Positionierungs- und Beurteilungsaktivitäten zeigt sich die animierte Rede (vgl. Ehmer 2011) als besonders funktional in Beurteilungsgesprächen mit anwesenden SchülerInnen. Ich verstehe die animierte als spezifische Design-Aktivität und bespreche die Funktionen und Kontexte gesondert in Kapitel 7, um vertieft darauf eingehen zu können. Es geht dabei im Wesentlichen um Selbst- und Fremdpositionierungen und indirekte sowie implizite Bewertungen am Beispiel von imaginierten Identitätsmerkmalen.
Zuletzt wird in Kapitel 8 die Praxis der Selbstbeurteilung kritisch diskutiert. In einigen Schulen füllen die SchülerInnen vor den Beurteilungsgesprächen schriftliche Selbstbeurteilungsbögen aus und bringen diese zu dem Gespräch mit. Diese Selbstbeurteilungen werden in den Gesprächen sehr unterschiedlich gewichtet und es wird der Frage nachgegangen, wie die teilweise divergierenden Selbst- und die Fremdbeurteilungen von den Beteiligten ausgehandelt werden.
In Kapitel 9 werden schliesslich die Ergebnisse resümiert und es folgt ein Ausblick auf zukünftige Forschungstätigkeiten im Bereich von Beurteilungsgesprächen in der Schule. Dabei werden einerseits Forschungsdesiderata formuliert, die sich auf die (gesprächsanalytische) Erforschung von Beurteilungsgesprächen bezieht. Andererseits werden erste Überlegungen zur Relevanz der Forschungsergebnisse für (angehende) Lehrpersonen gemacht. Dabei geht es noch nicht um die Ausarbeitung von Schulungsangeboten, da dies den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, aber es werden Möglichkeiten der Angewandten Gesprächsforschung angedacht.
2 Konversationsanalyse und darüber hinaus
„A speaker should, on producing the talk he does, orient to his recipient.“
(Sacks 1995: II: 438 [Fall 1971, lecture 4])
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit mündlichen Gesprächsaufnahmen und lässt sich grundsätzlich der Forschungstradition der ethnomethodologischen Konversationsanalyse und damit der qualitativen Sozialforschung zuordnen (vgl. Deppermann 2008a: 10). Meine Studie orientiert sich hauptsächlich an der Konversationsanalyse, richtet sich jedoch in einigen Punkten nach den Anpassungen von Deppermann (2008a), der durch den Begriff Gesprächsanalyse seine methodischen Anpassungen in Abgrenzung zur ursprünglichen Konversationsanalyse anzeigt.1 Beispielsweise spricht sich Deppermann (2000; 2008a: 10) entgegen dem konversationsanalytischen Forschungsinteresse für den Einbezug von ethnografischem Datenmaterial aus (vgl. dazu Kap. 3.1).
Im Folgenden werden zuerst die Vorgehensweisen der Gesprächsanalyse sowie grundlegende Erkenntnisse der Gesprächsforschung vorgestellt (Kap. 2.1). In den weiteren Teilen werden theoretische und methodische Ansätze diskutiert, die sich als besonders zentral und fruchtbar für die Analyse zeigen. Es handelt sich dabei um die grundlegende Interaktivität und Ausrichtung an den Rezipierenden (Kap. 2.2), um Beteiligungsstrukturen in der Interaktion (Kap. 2.3) sowie um Theorien zu Identität(en) und Positionierungen im Gespräch (Kap. 2.4).
Der theoretische und methodische Rahmen der vorliegenden Untersuchung wird durch die ethnomethodologische Konversationsanalyse gegeben, wie sie in den 1960er Jahren entwickelt und massgeblich durch die Soziologen Sacks, Schegloff und Jefferson geprägt wurde (vgl. einführend in die Konversationsanalyse bspw. Auer et al. im Druck; Brinker & Sager 2010; Deppermann 2008a; Gülich & Mondada 2008; Henne & Rehbock 2001; Hutchby & Wooffitt 2008; Psathas 1995; Schegloff 1995; Schwitalla 2012; Sidnell 2011; Sidnell & Stivers 2013; ten Have 2007). Der Begriff Ethnomethodologie 1 geht dabei auf Garfinkel (1967) zurück und wird allgemein definiert als „open-ended reference to any kind of sense-making procedure“ (Heritage 1984a: 5). Es sind dabei im Wesentlichen Methoden und Praktiken gemeint, die in einer sozialen Gemeinschaft verwendet werden, um Bedeutung herzustellen. Diese Praktiken werden als Ressourcen verstanden, die den Mitgliedern einer Gesellschaft für ihr Handeln zur Verfügung stehen und Forschende können wiederum durch Analysen der Praktiken Einblick in Handlungsweisen erlangen. Die Methoden und Praktiken sind gemäss Garfinkel accountable , was von ihm beschrieben wird als „observable-and-reportable, i.e. available to members as situated practices of looking-and-telling“ (Garfinkel 1967: 1). Damit wird davon ausgegangen, dass in einer sozialen Gruppe zumindest implizites Wissen über soziale Praktiken vorherrscht und dieses Wissen durch die AkteurInnen selbst in der situierten Praktik hervorgebracht wird.
Während es in der breiter soziologisch ausgerichteten Ethnomethodologie um jegliche soziale Prozesse geht und methodisch mehrheitlich mit teilnehmender Beobachtung oder Garfinkels berühmten breaching experiments 2 gearbeitet wurde (vgl. Hutchby & Wooffitt 2008: 28f.), liegt der Fokus der Konversationsanalyse im Speziellen auf der sprachlichen Interaktion. Um genaues Hinhören und mehrfaches Abspielen zu ermöglichen, wurde seit den Anfängen der Konversationsanalyse mit Audio- und später dann auch Videodaten gearbeitet (vgl. z.B. Hutchby & Wooffitt 2008: 69ff.). Was die Interessen der Gesprächsanalyse sind, wird sehr treffend bei Deppermann (2008a: 9, Hervorhebung im Original) erläutert:
[Die Gesprächsanalyse] will wissen, wie Menschen Gespräche führen. Sie untersucht, nach welchen Prinzipien und mit welchen sprachlichen und anderen kommunikativen Ressourcen Menschen ihren Austausch gestalten und dabei die Wirklichkeit, in der sie leben, herstellen. Diese Gesprächswirklichkeit wird von den Gesprächsteilnehmern konstituiert , d.h. sie benutzen systematische und meist routinisierte Gesprächspraktiken , mit denen sie im Gespräch Sinn herstellen und seinen Verlauf organisieren.
Das Ziel der Gesprächsanalyse ist es also, die verschiedenen kommunikativen Ressourcen und Gesprächspraktiken von Gesprächsteilnehmenden zu untersuchen, um besser zu verstehen, wie Gespräche verlaufen. Wie auch bei der Ethnomethodologie liegt das Erkenntnisinteresse darin nachzuvollziehen, wie Bedeutung und Sinn im Gespräch hergestellt werden und folglich wie die Gesprächsteilnehmenden diese bedeutungsvolle Gesprächswirklichkeit konstituieren und interaktiv aushandeln. Diese gemeinsame Herstellung oder Hervorbringung der Gesprächsrealität, welche Garfinkel (1967: 11) als accomplishment oder achievement bezeichnet, gilt als zentraler Grundgedanke der ethnomethodologischen Konversationsanalyse (vgl. z.B. Gülich & Mondada 2008: 13; Stukenbrock 2013: 222). Der hergestellte Sinn wiederum kann in der Analyse nachvollzogen werden, indem beobachtet wird, wie die Teilnehmenden interaktiv auf das Gesagte reagieren und Bezug nehmen und dadurch den weiteren Verlauf prägen. Die Gesprächsbeteiligten orientieren sich dabei an der grundlegenden Sequenzialität (vgl. Stukenbrock 2013: 231) bzw. Prozessualität (vgl. Deppermann 2008a: 8) von Gesprächen, d.h. an zeitlich nacheinander realisierten Gesprächsbeiträgen. Ausgehend von der sequenziellen Organisation von Gesprächen versteht sich die konversationsanalytische Methode auch als Sequenzanalyse (vgl. Kap. 3.1.3).
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