Eine der frühsten Auseinandersetzungen mit der Gesamtheit der avantgardistischen Strömungen geschieht in Renato Poggiolis Studie The Theory of the Avant-Garde (1962, englische Übersetzung 1968). Allerdings liefert Poggioli nicht wirklich eine Theorie (Buchloh hat dessen Essay als „hopelessly atheoretical and historically insufficient“1 beschrieben), sondern er geht deskriptiv in seiner Analyse der Avantgarde vor. Mit dem italienischen Literaturkritiker beginnt die in der anglo-amerikanischen Kritik häufig vertretene Rezeption der Avantgarde als Hochphase der Moderne. Er operiert mit einem ausgedehnten Avantgarde-Begriff, der mit der Romantik beginnt und sich in vier Phasen bis zur Gegenwart fortentwickelt.2
Bereits Ende der 1950er Jahre hatte der marxistische Literaturkritiker Georg Lukács die Avantgarde (zu der er Autoren wie Kafka, Joyce, Eliot, Gide und Beckett zählte) als Teil der Moderne betrachtet. Der Verfechter des kritischen Realismus warf der Avantgarde eine antirealistische, nihilistische, dekadente, pathologische und kapitalistische Weltanschauung vor und kritisierte, dass sich Mensch, Welt und Wirklichkeit in ihr auflösten.3 Lukács Überlegungen zur Avantgarde sind heute längst nur noch von historischer Bedeutung und für eine Avantgardetheorie kaum zu gebrauchen, sie zeigen die Avantgarde aber als besonders dekadenten Teil der Moderne und unterstützen damit Poggiolis Idee von der Gleichsetzung von Moderne und Avantgarde.
Die Konzeption der Avantgarde als besonders radikale Ausprägung der Moderne ist insbesondere im englischsprachigen Raum (z.B. bei Krauss, Calinescu4) vertreten und liegt sicher auch darin begründet, dass die historische Avantgarde ein spezifisch europäisches Phänomen war.
2.5.3 Avantgarde als Bruch mit der Moderne
Abb. 3
Nachdem die Kategorie des Bruchs unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa zum Tabu1 geworden war, wurde sie gegen Ende der 1960er Jahre wieder bemüht, um eine neue Tradition der Avantgardeforschung einzuleiten, die in Opposition zu Poggiolis Konzeption der Avantgarde als Hochphase der Moderne steht: die Avantgarde als Bruch mit der Moderne. Bereits im Jahr 1959 hatte Ionesco auf einer Konferenz über das Avantgardetheater in Helsinki die Linearität der Avantgarde mit dem Bild des Bruchs in Frage gestellt:
Je préfère définir l’avant-garde en termes d’opposition et de rupture. Tandis que la plupart des écrivains, artistes, penseurs s’imaginent être de leur temps, l’auteur rebelle a conscience d’être contre son temps. […] L’homme d’avant-garde est l’opposant vis-à-vis du système existant.2
Guy Debord hat als einer der ersten diese Wende in der Bewertung der Avantgarde beobachtet. Er glaubte, die moderne Kunst sei mit der Avantgarde an ihr Ende gekommen.3 Jedoch sei die Avantgarde in ihrem Bestreben, die Welt zu verändern aber letztlich doch im Bereich der Kunst verhaftet geblieben. Im Zuge der Bewusstwerdung ihres Scheiterns habe sie sich in eine doktrinäre Haltung zurückgezogen.4 Die Situationisten hätten dagegen die Kunst gerade in der Gleichzeitigkeit von Abschaffung und Realisierung überwunden und damit die avantgardistische Intention erfüllt.5 Sie waren die ersten Avantgarde der Nachkriegszeit, die sich explizit in die Tradition der historischen Avantgarde stellte.
Mit seiner Theorie der Avantgarde (1974) führt Peter Bürger das Konzept des Bruchs schließlich erfolgreich in die Avantgardeforschung ein. Ihm zufolge strebte die Avantgarde eine Überführung der Kunst in eine neue Lebenspraxis an. Voraussetzung dieses Bestrebens war die Trennung zwischen Kunst und Gesellschaft im Ästhetizismus des auslaufenden 19. Jahrhunderts und die daraus resultierende gesellschaftliche Wirkungslosigkeit der Kunst. Die Avantgarde habe die Beziehung zwischen Autonomie und Folgenlosigkeit der Kunst und damit ihre Selbstzweckhaftigkeit im l’art pour l’art erkannt und versucht, „die ästhetische (der Lebenspraxis opponierende) Erfahrung, die der Ästhetizismus herausgebildet hat, ins Praktische zu wenden.“6 Die europäische Avantgarde war damit ein „Angriff auf den Status der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft“.7 Die Institution Kunst als ein von der Lebenspraxis abgehobenes Phänomen wurde von der Avantgarde kritisiert, womit „das gesellschaftliche Teilsystem Kunst in das Stadium der Selbstkritik“8 eingetreten sei. Zum ersten Mal sei es der Kunst möglich, sich selbst als Institution (d.h. als ein kunstproduzierendes, -distribuierendes und –rezipierendes Gebilde) zu kritisieren und nicht nur den Gehalt und Stil einzelner Werke. Hätte die Avantgarde ihre Intentionen erfüllt, hätte dies zu einem Ende der Kunst geführt.9 Bürger betrachtet die historische Avantgarde jedoch aus drei Gründen als gescheitert an: erstens habe die Kunst nicht in Lebenspraxis überführt werden können, zweitens sei die Avantgarde von der Institution Kunst vereinnahmt, musealisiert und konsekriert worden, drittens könne man angesichts der heutigen Ästhetisierung der Lebenswelt allenfalls von einer falschen Aufhebung der Kunst im Alltag sprechen.10 Jedoch stellt Bürger die Frage, „ob eine Aufhebung des Autonomiestatus [der Kunst] überhaupt wünschenswert sein kann“11, da die Kunst nur in ihrer Distanz zur Lebenspraxis überhaupt kritisch sein könne. Trotz der Immunität der Kunstwelt gegenüber Angriffen der Avantgarde spricht er den avantgardistischen Bewegungen eine wichtige Errungenschaft zu: die Avantgarde habe die Institution Kunst als Institution überhaupt erst erkennbar gemacht und die Kunst von innen heraus verändert, indem sie das organische Kunstwerk zerstört und für die Gleichberechtigung aller künstlerischen Materialien für die Kunst gesorgt habe. Für Bürger geht das Scheitern der Avantgarde Hand in Hand mit ihrem ästhetischen Erfolg:
In retreating to its core domain of aesthetic autonomy, the art institution demonstrates a resistance to the attack of the avant-gardes, yet also adopts avant-garde practices. Seen in this light, the failure of the avant-garde’s aspirations to alter social reality and its internal aesthetic success (the artistic legitimation of avant-garde practices) are two sides of the same coin.12
Im Gegensatz zu Poggioli, für den die Avantgarde eine radikale Ausprägung der Moderne ist, rückt Bürger von einem linearen Avantgardeverständnis ab und konzipiert die Avantgarde als Bruch mit der Moderne. Damit nimmt er eine klare Unterscheidung zwischen Moderne und Avantgarde vor und wertet die Avantgarde als ästhetisch eigenständiges Phänomen mit eigenen Bedingungen, Intentionen und Merkmalen auf. Die Denkfigur der Avantgarde als Bruch ist vor allem in der europäischen Avantgardeforschung verbreitet. So stellte beispielsweise Henri Béhar der Idee einer linearen und progressiven Entwicklung von Kunst und Literatur ein drei- oder sogar vierdimensionales Modell gegenüber, in dem die Avantgarde „trous noirs“ oder „littéruptures“ entspricht, die mit dem Bisherigen brechen und „des moments de désordre absolu, totalement inclassables, difficilement repérables“13 darstellen.
2.5.4 Avantgarde als Rand eines Kreises
Abb. 4
Aufgrund der Rekuperation, Konsekrierung, Domestizierung und Musealisierung der Avantgarde wurde spätestens ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihr Tod proklamiert. Paul Mann hat in The Theory-Death of the Avant-Garde (1991) den vermeintlichen Widerspruch aufgezeigt zwischen den zahlreichen Für-Tot-Erklärungen der Avantgarde und gleichzeitig einer reichhaltigen Produktion an avantgardistischer Kunst und Avantgardekritik. Ihm zufolge bedeutet der Tod der Avantgarde nicht ihr Ende, sondern koinzidiert vielmehr mit ihrer produktivsten Phase:
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