Die räumliche Grenz-Metaphorik ist auch konstitutiv für das gängige Verständnis von Wissenschaft und den Wissenschaften. Zum einen gilt Wissenschaft im Allgemeinen als die Praxis zur Generierung von sicherem Wissen in Abgrenzung zum unverbindlichen Meinen und Vermuten oder einem unverstandenen Können (Kambartel 2004: 719f.; siehe Mildenberger 2007: 54f.). Zum anderen werden die Vorgehensweisen im Einzelnen, die Disziplinen, häufig über den jeweils behandelten Phänomen- und Problembereich sowie über die verwendeten Methoden (z.B. verstehen oder erklären) und die Begründungsart differenziert (z.B. apriorische oder empirische Argumente) (Kambartel 2004: 720). Freilich erweisen sich insbesondere durch verstärkte interdisziplinäre Kooperation in Forschungsprojekten die „wissenschaftlichen Fachgrenzen als durchlässig“, was jedoch nicht heißt, dass diese eigentlich nicht existieren oder sinnlos wären (siehe Brendel 2011: 2588). Allerdings setzt zumindest die Metaphorik einer „Ethik in den Wissenschaften“ derartige Fachgrenzen voraus: Es gibt viele Wissenschaften, die demnach durch bestimmte Merkmale voneinander unterscheidbar sein müssen. Zudem könne Ethik „in“ diesen oder „neben“ diesen voneinander abgegrenzten Wissenschaften betrieben werden. Weiter ist Ethik selbst eine durch Problembereich, Methode und Begründungsart von anderen Disziplinen abgrenzbare Wissenschaft. Werden die Wissenschaften nun in naiv räumlicher Metaphorik gefasst, dann drängt sich das Bild von Behältnissen wie z.B. Containern oder Aktenordnern auf (z.B. mit der Aufschrift „Biologie“), die einen Bestand wahrer Aussagen und geeigneter Methoden zur Erforschung des Problembereichs (hier: „das Lebendige“) enthalten – sonst aber nichts. Angesichts wissenschaftstheoretischer und -soziologischer Überlegungen scheint es heute jedoch sinnvoll, das statische „Containerbild“ zu überschreiten und die einzelnen Wissenschaften jeweils als dynamische Praxis zu begreifen, in der wissentlich und willentlich nach spezifischen Methoden gehandelt wird, um das Ziel einer Problemlösung und gesichertes Wissen zu erreichen (siehe z.B. Düwell 1996: 220f.; Mildenberger 2007: 52f.). Somit hätten wir bildlich nun zwar nicht mehr zwei statische Behältnisse, eines der normativen „Ethik“ und z.B. eines der möglichst wertneutralen „Biologie“ ohne Moral oder ethische Fragen, jedoch bleiben doch von einander deutlich unterschiedene Verfahrensweisen, die auch in verschiedener Weise mit den ihnen jeweils inhärenten gelebten Werten und Normen umgehen. Eine weniger metaethisch interessierte, sondern eher problemorientierte anwendungsbezogene Ethik könnte nun – laut IZEW-Topos – den Akteuren der biologischen Wissenschaftspraxis fälschlicherweise „ungefragte“ Moralaufklärung leisten (über implizite Werte, mögliche Folgen und Probleme der Forschungspraxis etc.) und diesen sodann Vorschriften über wünschenswertes Verhalten machen – so interpretiere ich die metaphorische Rede von einer (verfehlten) Ethik „zu“ den Wissenschaften. Dagegen bestünde eine (ebenfalls verfehlte) anwendungsbezogene Ethik „nach“ den Wissenschaften wohl darin, dass zu Forschungsverfahren und -Produkten einer der Wissenschaften nachträglich eine (womöglich abwegige) ethische Fachexpertise eingeholt wird – ohne über die erforderliche Sachkenntnis zu verfügen. Das laut Topos wünschenswerte Vorgehen bestünde dann vermutlich in kooperativen Forschungsprojekten im Sinne einer Technikfolgenabschätzung. Ein Blick in einige programmatische Texte des IZEW zeigt, dass die Präposition „in“ zumeist für Inter- oder Multidisziplinarität steht (siehe Engels 2005: 146; Mieth 2007: 39ff.), wobei das verfehlte „neben“ entsprechend einen Mangel an Sachkenntnis in den für die anwendungsbezogene Ethik zumeist erforderlichen „gemischten Urteilen“ ausdrückt (Düwell 2001: 172f.). Wenn Wissenschaften als „Praxis“ aufgefasst werden und nicht nur als Aussagensysteme und Methodensets, dann kommen in dieser Praxis wertbasierte Präferenz-Entscheidungen vor, die so oder auch anders ausfallen und auch außerwissenschaftliche Werte berücksichtigen können. Die Annahme einer „Wertfreiheit“ der Wissenschaft kann dann nur noch ein „innerwissenschaftliches, methodisches Prinzip“ sein (Mack 1989: 31f.). Es scheint mir plausibel, dass aus der Annahme, Wissenschaft sei die Praxis des Strebens nach gesichertem Wissen, auch eine auf diesen Zweck relativierte „allgemeine Wissenschaftsethik“ bzw. „Professionsethik“ folgt, die zur ständigen Reflexion des Handelns auffordert und sich an Werten wie z.B. methodische Sorgfalt, Wahrhaftigkeit oder Kollegialität orientiert (Engels 2004: 12). Wissenschaftler/innen sind insofern „vor allem für die Wahrheit des von ihnen produzierten Wissens verantwortlich“ (Mildenberger 2007: 59). Darüber hinaus scheint es sinnvoll, eine besondere Verantwortung bzw. Professionsethik der jeweils einzelnen Wissenschaften aufgrund der Besonderheit ihrer Gegenstände anzunehmen (z.B. Engels 2004: 14f.).
Das aber sind zunächst einmal begriffliche Thesen darüber, was Wissenschaft ist und eigentlich sein sollte, nämlich eine selbstbewusste Praxis, die nicht ohne ethische Reflexion denkbar ist, da jede Praxis mit wissentlich und willentlich ausgeführten Handlungen und Überlegungen zu tun hat. Mit dem Topos „Ethik in den Wissenschaften“ verbunden ist also zum einen eine Antwort auf die Frage, was Wissenschaft ist und sein soll (nämlich eine neben der disziplinären Wissensgenerierung und Problemlösung auch zu verantwortende und ethisch zu reflektierende Tätigkeit), zum anderen wird damit aber die tatsächliche Wissenschaftspraxis fokussiert, in der nicht notwendig, nicht vorbehaltlos und auch nicht ständig ethisch reflektiert wird. Für diese Praxis ist das gemeinsame ethische Reflektieren ja etwas Neues, das an der Universität Tübingen mindestens seit 1985 praktiziert wird. „Die Ethik in den Wissenschaften richtet sich zunächst auf Personen als Subjekte dieser Ethik. Insofern geht es um den Aufbau einer wissenschaftsethischen Mentalität“ (Mieth 1990: 328). Es ist nicht ganz klar, ob hier die Wissenschaftler/innen in ihrer Rolle oder allgemein als Personen gemeint sind, die sich unabhängig ihrer bestimmten disziplinären Sozialisation, methodischen Kenntnis etc. in allen Praxisbereichen frei bewegen. Geht es im Topos „Ethik in den Wissenschaften“ also um Personen, die beiläufig auch Wissenschaftler sind, oder geht es um diese als Vertreter/innen einer bestimmten Wissenschaft? Entweder liefern die Teilnehmer/innen am interdisziplinären Austausch als Vertreter einer Disziplin gesichertes Sach- und Methodenwissen (z.B. über biotechnologische Zusammenhänge) oder sie betätigen sich, z.B. unterstützt durch „philosophisch ethische Zusatzstudien“ (Mieth 2007: 39), als Personen, die an einem Austausch über Werte und Normen teilnehmen. Aber nicht „alle möglichen Beteiligten“ sind auch schon „Ethiker“ oder “Ethikexperten“; z.B. dann nicht, wenn ihnen das „begriffliche Rüstzeug“ und die „Kenntnis der Argumentationsweisen der fachlichen Ethik“ fehlen (Mieth 2001: 299). Fachleute aus der philosophischen Ethik können sich dagegen über biotechnologische Erkenntnisse informieren lassen und als Laien auf diesem Gebiet Fragen stellen oder Zusammenhänge problematisieren, um diese womöglich zum Anlass für begrifflich-philosophische Reflexionen zu nehmen – nicht aber betreiben sie Biowissenschaft. Der Ort, an dem „Ethik in den Wissenschaften“ vorkommen soll, ist demnach vielmehr eine „Brücke“ zwischen den Disziplinen (siehe Mieth 2007: 41; siehe auch Engels 2005: 146) und somit nicht „in“ einer oder „in“ den Wissenschaften zu finden. Sollen nun, um die Metapher aufrecht zu erhalten, die Wissenschaftler als Personen auf diesem interdisziplinären Feld sich die philosophische Ethik zu eigen machen und diese praktizieren? Dann würde eine Person zwar nicht mehr in Ausübung ihrer spezifischen Methoden, aber doch veranlasst durch ihre Rolle als Wissenschaftlerin damit beginnen, ethische Fragen zu stellen und diese mit den Mitteln der Ethik zu bearbeiten. Wir befänden uns nicht mehr „in“ einer Wissenschaft, sondern eher in einer reflektierenden „Daraufsicht“ vom Standpunkt der Ethik – dann aber doch „neben“ der reflektierten Wissenschaft. Denn wenn nun tatsächlich philosophische Ethik betrieben wird, dann stellen sich notwendig zahlreiche metaethische, ontologische, argumentations-theoretische Fragen o.ä., die sich nicht ohne weiteres ignorieren oder als nur für bestimmte Praxisbereiche bzw. „Bereichsethiken“ relevant bezeichnen und also nur selektiv thematisieren ließen (siehe Richter 2015: 203f.; Hubig 2015: 193–205). Müssen sich Wissenschaftler als solche also für solch eine philosophische Ethik für Alle interessieren (Treptow 2015: 53)? Das scheint zunächst einmal nicht notwendig, insofern sie nur in ihrer disziplinären Rolle verbleiben und nicht das oben skizzierte Feld der Interdisziplinarität betreten und einen Rollenwechsel vornehmen. In den Disziplinen existieren bereits Professionsethiken bzw. ethische Leitlinien3 und wer sollte besser als die Fachleute selbst wissen, was das richtige Verhalten im Einzugsbereich ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Tätigkeit ist (siehe Treptow 2015: 53f.)? Warum sollte darüber hinaus – im philosophischen Sinne – „in den Wissenschaften“ ethisch weiter gefragt werden?
Читать дальше