Dem folgend kann eine Fundamentalethik, welche mit abstrakten Gedankenspielen operiert, um schließlich für bestimmte Verhaltensprinzipien argumentieren zu können, mit einer Funktion von Ethik in Verbindung gebracht werden, welche mit Luke (1995) als „Zähmung“ ( taming ) umschrieben werden kann, während eine Ethik, welche Weltkontakt pflegt, mit der der „Zähmung“ entgegengesetzten, ebenfalls von Luke stammenden Idee der „Verwilderung“ ( going feral ) kontrastiert werden kann. „Zähmung“ meint die Restriktion von Handlungsmöglichkeiten, das Einhalten von Verhaltensprinzipien, den Einsatz von Ethik zur Lenkung des Handelns in einen bestimmten Korridor des moralisch Akzeptablen. „Verwilderung“ auf der anderen Seite spielt umgekehrt auf die Freisetzung von Handlungsmöglichkeiten an, auf die Erlangung von persönlicher Autonomie. Während „Zähmung“ einer Art paternalistisch motivierten, ethischen Gesetzgebung entspricht, zielt „Verwilderung“ auf die Reaktivierung von Autonomie und Mitgefühl als Quelle moralischer Rücksichtnahme. „Verwilderung“ diszipliniert moralische Akteure nicht zur Einhaltung von Verhaltensprinzipien, sondern sie emanzipiert von der Unfähigkeit, in Situationen, in denen moralisch relevante Entscheidungen getroffen werden müssen, autonom und mitfühlend handeln zu können.
Nun kann freilich eingewendet werden, dass auch eine angewandte Ethik, welche in einem durch empirisches Beobachteten geschulten Kontakt zu den sozialen Verhältnissen steht, „zähmend“ agieren kann, indem sie Vorschriften darüber aufstellt, welche Handlungen moralisch geboten respektive verboten sind. Doch eine derart agierende Ethik wirkt rasch befremdend, wenn nicht gar verschroben, schließlich wird es möglich, gerade durch ihre fachkundige Praxisnähe die mit ihr verbundenen Dekrete in direkten Abgleich mit ureigenen Interessen, Überzeugungen und Wunschsetzungen zu bringen. Derart wird plötzlich das immense Konfliktpotenzial deutlich, welches die angewandte Ethik mit sich bringt, indem sie das Bestehende mit dem ethisch Richtigen kontrastiert. Die Ethik wirkt derart „ungemütlich“, ja offensichtlich taktlos, als würde sie bar jeglicher interaktionell notwendiger Rücksichten agieren und als wisse sie nicht, dass es weitreichende, sozial verankerte „Ausschaltungswerte“ (Luhmann 2008: 186) für ethisches Reflektieren gäbe, welche sich stabilisierend auf eingespielte soziale Handlungszusammenhänge auswirken. Sobald Ethik nicht mehr mit abstrakten Verhaltensprinzipien operiert, deren situationsspezifische Konkretion im Endeffekt eine bloße Seltenheit ist, sondern sie die Lebens- oder Arbeitswelt moralischer Akteure direkt betrifft und unmittelbar in Beziehung gesetzt werden kann zur bestehenden sozialen Praxis, riskiert sie, in Konflikt zu geraten mit der Intention moralischer Akteure, die Gefahr der Restriktion der eigenen, subjektiv wahrgenommenen Handlungsfreiheit abwehren zu müssen. Doch eine derart „gefährliche“ Ethik hat wenige Erfolgsaussichten. Daher bietet es sich an, dass sie, anstatt auf „Zähmung“ auf „Verwilderung“ setzt – zumal, wie sich aus dem eben gesagten ergibt, kommunikationspsychologische Überlegungen darauf hindeuten, dass Ethik andernfalls als bloße Belastung in der Kommunikation wahrgenommen wird, welche rasch Reaktanz provoziert. Normative Geltungsansprüche, welche offensichtlich „zähmen“ wollen, verpuffen eher, als dass sie tatsächlich eingelöst werden.
„Zähmung“ funktioniert, solange es darum geht, moralisch zu fixieren, dass man eine Katze nicht als Dartscheibe benutzen darf, dass man eine Straßenbahn besser eine einzelne als fünf Personen überfahren lassen sollte, dass man hinter dem Schleier des Nichtwissens von der eigenen sozialen Position abstrahieren muss etc. – weil die „Zähmung“ nicht in Bezug zur eigenen Lebens- oder Arbeitswelt gesetzt werden kann. Alsbald sich dies jedoch ändert und Ethik, welche Weltkontakt sucht, plötzlich persönliche Relevanz erhält, setzen sich „Zähmungsversuche“ nicht nur dem Verdacht aus, paternalistisch zu sein, sondern sie sehen sich gleichzeitig einer extremen Ablehnungs- und Verteidigungsbereitschaft entgegengestellt. Anders sieht es aus im Falle der „Verwilderung“, mit welcher, wie oben angesprochen, eine angewandte Ethik, welche gezielt Weltkontakt pflegt, in Verbindung gesetzt werden kann. Hier geht es nicht mehr darum, Restriktionen gegenüber solchen Handlungszusammenhängen aussprechen zu können, welche als moralisch falsch erachtet werden. Vielmehr geht es um die Vermittlung von Wissen, um das Hinweisen auf blinde Flecken, um bloße Aufmerksamkeitsverschiebungen, mit dem Effekt, Handlungsfreiheit gerade nicht zu senken, sondern zu steigern. Es geht um die Ausweitung von Autonomie, um die persönliche Weiterentwicklung, um die Aneignung von Eigenverantwortlichkeit.
Während „Zähmung“ ethische Fremdbestimmung meint, strebt eine an „Verwilderung“ orientierte Ethik die Befähigung von moralischen Akteuren an, moralisch relevante Entscheidungen auf der Grundlage von umfassendem Wissen und Einfühlungsvermögen selbstverantwortlich zu treffen. Sie erkennt, geschult durch ihre Bereitschaft, als Beobachterin erster Ordnung soziale Praxis wahrzunehmen, dass diese durchsetzt ist von versteckten Glaubens-, Überzeugungs- und Wertsystemen, welche es nicht allein gilt, manifest zu machen, sondern überdies zu reflektieren. Ethik, so könnte man meinen, wäre daher gleichsam ein Geschäft sozialer Superbeobachter, welche, ähnlich Künstlern, „merken, was die meisten anderen Menschen nicht merken […]“ (Rorty 1989: 257–258). So schreibt auch Adorno:
An denen, die das unverdiente Glück hatten, in ihrer geistigen Zusammensetzung nicht durchaus den geltenden Normen sich anzupassen – ein Glück, das sie im Verhältnis zur Umwelt oft genug zu büßen haben –, ist es, mit moralischem Effort, stellvertretend gleichsam, auszusprechen, was die meisten, für welche sie es sagen, nicht zu sehen vermögen oder sich aus Realitätsgerechtigkeit zu sehen verbieten. (Adorno 1966: 49)
Doch eine Ethik des Weltkontakts und der „Verwilderung“, so sehr sie auch auf die Emphase Einzelner angewiesen sein mag, sollte stets nach der Ausweitung ihrer selbst streben. Das Projekt der ethischen „Verwilderung“ bedarf keiner kleinen Klasse an Superbeobachtern, welche Gesellschaft vermeintlich von außen wahrnehmen können. Zwar geht es tatsächlich um die Erlangung einer gewissen Distanz zu sozial eingespielten Handlungsroutinen und Deutungsmustern, allerdings darf diese Distanz nicht missverstanden werden als vollständige Aufkündigung der eigenen Gebundenheit an einen bestimmten sozialen Ort, an eine bestimmte soziale Formatierung. Eine Ethik, welche gezielt solche Reflexionen tätigt, welche explizit Relevanz für bestimmte soziale Praxisfelder aufweisen, ist sich dieser Abhängigkeiten bewusst – und strebt dennoch an, das Prinzip der „Verwilderung“ ebenfalls auf sich selbst anzuwenden. Schließlich kann sie dabei umso mehr jene Abhängigkeiten in den Blick nehmen, je mehr sie Weltkontakt sucht.
Adorno, Theodor W. (1966). Negative Dialektik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Bourdieu, Pierre (2009). Das Elend der Welt. Stuttgart: UTB.
Carruthers, Peter (2014). Warum Tiere moralisch nicht zählen. In: Schmitz, Friederike (Hg.): Tierethik. Berlin: Suhrkamp, 219–242.
Doris, John M./Stich, Stephen P. (2005). As a Matter of Fact. Empirical Perspectives on Ethics. In: Jackson, Frank/Smith, Michael (Eds.): The Oxford Handbook of Contemporary Philosophy. New York: Oxford University Press, 114–154.
Heinrichs, Bert (2008). Zum Beispiel. Über den methodologischen Stellenwert von Fallbeispielen in der Angewandten Ethik. Ethik in der Medizin 20 (1): 40–52.
Höffe, Otfried (2013). Ethik. Eine Einführung. München: C.H. Beck.
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