οὐκ ἔνι δοῦλος οὐδὲ ἐλεύθερος (3,28b): Während das Gottesverhältnis von Sklaven bisher durch die Ansprüche ihrer Herren eingeschränkt werden konnte, bedeutet die Taufe εἰς Χριστόν, welche keinerlei Gesetzesforderungen nach sich zieht, die Unerheblichkeit des Sklave- oder Freiseins im Gottesverhältnis. Auf der realen gesellschaftlichen Ebene meint dies keine Sozialrevolution – weder gesamtgesellschaftlich noch innerhalb der christlichen Gemeinde. Doch wenn ein Christ auch weiterhin einen Christen zum Sklaven haben kann, führt ihre Gleichwertigkeit vor Gott zu einer neuen Ebenbürtigkeit auf geistlicher Ebene: Sind sie beide υἱοὶ θεοῦ (3,26), so haben sie sich auch untereinander wie ἀδελφοί zu verhalten. Zugleich ist das Gegensatzpaar im Kontext der allgemeinen Befreiungs-Erbschafts-Thematik einzuordnen, welche vor jeder Art von freiwilliger Versklavung, v.a. unter das Gesetz warnt.
οὐκ ἔνι ἄρσεν καὶ θῆλυ (3,28c): In der für beide gleichen Taufe gehen Männer wie Frauen die alles entscheidende Gottesbindung ein. Ausgehend von sonstigen paulinischen Äußerungen und Berichten aus paulinischen Gemeinden zieht dies weder eine Aufhebung der Unterschiedlichkeit zwischen Mann und Frau, noch der Zweigeschlechtlichkeit oder Gottebenbildlichkeit nach sich. Wie Paulus die Sklaverei nicht abschafft, so hat er auch keine Gleichberechtigung nach modernem bzw. postmodernem Vorbild im Sinn. Dennoch lassen sich zwei geradezu revolutionäre Aspekte festhalten: Dass die Taufe in gleicher Weise an beiden durchgeführt wird und damit auch beide auf gleichem Wege gerechtfertigt werden, stellt einen kategorialen Unterschied gegenüber jüdischer Kultpraxis dar, welche das (soteriologisch notwendige) Bundeszeichen lediglich an Männern durchführt. Angesichts der (teilweise phantasiereichen) Fülle an Deutungsversuchen zu οὐκ ἔνι scheint am plausibelsten, dass das direkte Zitat aus Gen 1,27 nach der oben dargelegten Argumentation darauf verweist, dass die Taufe nicht die Unterscheidung zwischen männlich und weiblich negiert, sondern die Bezogenheit von Mann und Frau als engst mögliche Bindung ablöst und zugleich steigert: einerseits durch die Christusbindung des einzelnen und andererseits durch die Gemeinschaft der Christusgläubigen untereinander (siehe 3,28d).
Für alle drei Paarungen lässt sich demnach festhalten, dass die Gleichheit coram deo einerseits in der Taufe εἰς Χριστόν begründet wird und andererseits durch diese auch zum Ausdruck gebracht wird, indem sie bei wirklich allen Menschen in gleicher Weise durchgeführt wird. Diese Gleichheit wirkt sich sodann auf das Verhältnis der Christusgläubigen untereinander aus, indem die Taufe eine ganz neue Art von Gemeinschaft und Einheit zwischen den so unterschiedlichen Gruppierungen und – wie 3,28d zeigen wird – sämtlichen Getauften bewirkt. Sie hat ihre Ursache allein in der in der Taufe eingegangenen Christusbindung. Die Taufe εἰς Χριστόν ist damit nicht allein das rettende Initiationsritual des einzelnen, sondern wird auch zum Identitätsmarker der Gemeinschaft, wie Paulus im Folgenden pointiert festhält.
1.5 πάντες γὰρ ὑμεῖς εἷς ἐστε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ (Gal 3,28d)
1.5.1 Kontextuelle Einbindung von Gal 3,28d
Während die bisher besprochenen Einzelaussagen der Perikope beinahe unabhängig voneinander gereiht erscheinen können, lassen sich für Gal 3,28d Relationen zu sämtlichen Einzelaussagen des Abschnittes wahrnehmen, seien sie syntaktischer, inhaltlicher oder auch argumentativer Natur. In dem πάντες γὰρ ὑμεῖς εἷς ἐστε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ bündeln sich nicht nur verschiedene Einzelaspekte des voranstehenden paulinischen Gedankenganges, sondern diese wenigen Worte bilden auch das Gelenk zur folgenden Thematik der Erbberechtigung wirklich aller, die dann ab 3,29 entfaltet wird. Welcher Art die Bezugnahmen zum Kontext sind, kann allerdings durchaus diskutiert werden und hängt nicht zuletzt an der notwendigen textkritischen Entscheidung zur Stelle. Folgende näher zu erläuternde Fragestellungen ergeben sich aus den Kontextrelationen:
Welche Bedeutung hat der geradezu parallele Aufbau zu 3,26: πὰντες γὰρ … ἐστε … ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ?1 Ist 3,28d als Wirkung der Taufe aufzufassen (3,27a), evtl. als Explikation des mit εἰς Χριστὸν benannten Christusbezuges, wie auch 3,27b? Ist der räumliche Aspekt in 3,27b auch in 3,28d wahrzunehmen? Die oben dargestellte Interpretation von 3,28a–c als eine grundsätzliche Verneinung von Unterscheidungen und deren Relevanz (anstatt etwa von Unterschieden) hängt wesentlich an der in 3,28d gebotenen Begründung der Einheit aller.2 Zunächst ist also zu untersuchen, ob 3,28d tatsächlich als Einheitsaussage zu verstehen ist, um dann ggf. zu fragen: Von welcher Art ist diese Einheit – beschrieben durch εἷς – und enthält diese positive Bestimmung noch mehr als die voranstehenden negierten Paarungen? Das bereits thematisierte Christusverhältnis findet sich auch in 3,29a (εἰ δὲ ὑμεῖς Χριστοῦ) und wird dort begründend für die beiden folgenden zutiefst soteriologischen Aussagen herangezogen. Inwieweit wird dies bereits in 3,28d vorbereitet?3 Oder ist die Verbindung vielmehr im Einheitsaspekt zu sehen, welcher sich in der Betonung des einen τοῦ Ἀβραὰμ σπέρμα wiederfindet? Die vielfältigen Bezugnahmen lassen sodann erneut die Frage nach Umfang und Hauptaussage der vorliegenden Tradition und der gesamten Perikope aufkommen.
Dass sich viele der hier angefragten Kontextverbindungen als zutreffend und zudem konstitutiv für die gesamte Argumentationsstruktur des Abschnittes erweisen werden, verdeutlicht die Zentralstellung dieser wenigen Worte nicht allein in der Perikope, sondern auch die Bedeutung der Argumentation 3,26–29 für den gesamten Brief.
1.5.2 Forschungsüberblick zu Gal 3,28d
Die dargestellten vielfältigen Beziehungen zum Kontext haben im Verlauf der Forschungsgeschichte sehr divergierende Interpretationen nach sich gezogen. Zusätzliche Erweiterung erfährt die Deutungslandschaft durch den Umstand, dass ja bereits für die Phrasen 3,27b und 28a–c, wie oben dargestellt, erheblich divergierende Auslegungen im Raum stehen. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass εἷς ἐστε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ entweder als Gleichheit aller oder aber als Einheit aller interpretiert wird. Einzelne Kommentatoren meinen auch beide Aspekte erkennen zu können.
1) Die Gleichheit aller in Christus Jesus: Versteht man γάρ als kausale Konjunktion, welche 3,28d begründend an 3,28a–c anschließt, und interpretiert die Negation der drei Gegensatzpaare zugleich dahingehend, dass es keine Unterschiede mehr gibt, so ergibt sich für 3,28d sinngemäß: „denn ihr seid alle einer in Christus Jesus […] denn ihr seid alle gleich.“ Worin die Gleichheit besteht und inwieweit sie bereits realisiert ist, darin jedoch unterscheiden sich die Vertreter dieser Position: „not that all Christians form a corporate unity, but that in Christ each man stands on the same level as his neighbour“.1 Während diese Auffassung Duncans die Gleichheit auf die Position bezieht, also hierarchische Strukturen verneint, geht die Interpretation Kählers tiefer: „denn insgesamt haben sie ja ein einheitliches Wesen kraft ihres Verhältnisses zu Christo Jesu.“2 Burton wiederum versteht Gal 3,28d überhaupt nur für einen positiven Ausdruck des bereits in 3,28a–c Gesagten: „[A]ll these distinctions vanish (there is no respect of persons with God); it is as if it were always the same person reappearing before him.“3
Als Ursache dieser Gleichheit wird zumeist allgemein das Taufgeschehen angegeben, wenn die Frage überhaupt gestellt wird. In dieser Weise argumentiert auch Mußner, wobei er in gewissem Maße auf der bildlichen Ebene bleibt: „Das εἷς ἐστε resultiert für Paulus aus dem vorausgehenden Χριστὸν ἐνεδύσασθε: weil alle bei der Taufe denselben ‚Christum angezogen‘ haben, sind sie alle durch die Taufe εἷς geworden.“4 Darauf stützt er sodann seine bekannte Deutung des „eschatologischen Einheitsmenschen“.5
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