Mangels vorläufiger Bindungswirkung einer vermeintlich unbilligen Leistungsbestimmung steht es dem Arbeitnehmer nach der geänderten Rechtsprechungdes BAG nunmehr frei, ob er der Weisung des Arbeitgebers Folge leistet. Bis zur rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung über die Wirksamkeit der Weisung kann der Arbeitnehmer daher ein Leistungsverweigerungsrecht geltend machen. Diesbezüglich ist die Unterscheidung zwischen nichtigen und unbilligen Weisungen für den Arbeitnehmer zunächst einmal hinfällig geworden. In beiden Fällen muss der Arbeitnehmer der Weisung vorerst nicht nachkommen. Nach Auffassung des 10. Senats wird nunmehr dem Arbeitgeber das Risiko der Unbilligkeit der Weisung auferlegt.[16]
IV.Tarifbindung
1.Beidseitige Tarifgebundenheit
38
Rechtsgrundlage für die Gestaltung von Tarifverträgen sowie deren Form und Inhalt ist das Tarifvertragsgesetz; es regelt darüber hinaus u.a. die Tarifbindung und die sich hieraus ergebende Wirkung tarifvertraglicher Normen auf die Arbeitsverhältnisse.
Nach § 3 TVG sind alle Mitglieder der Tarifvertragsparteien, einerseits Gewerkschaftsmitglieder, andererseits Mitglieder von Arbeitgeberverbänden sowie Arbeitgeber, die selbst Partei des Tarifvertrages sind, tarifgebunden.
Gem. § 4 TVG gelten die tarifvertraglichen Normen ausschließlich zwischen beiderseits Tarifgebundenen. Als kollektives autonomes Recht wirken sie damit auf das dem individuellen Recht zuzuordnende
39
Allein der rechtswirksame Abschluss des Arbeitsvertrages zwischen Arbeitnehmern, die Mitglieder einer der tarifvertragschließenden Gewerkschaften sind (z.B. Verdi), mit einem Arbeitgeber (z.B. Bund), der selbst Partei des Tarifvertrages ist bzw. einem Arbeitgeberverband angehört (z.B. VKA), bewirkt als Rechtsfolge die Tarifbindung, ohne dass es besonderer oder zusätzlicher Vereinbarungen bedarf – Unmittelbarkeit. Jede der einzelnen tarifvertraglichen Normen gilt so, wie sie vereinbart ist. Die Bestimmungen des normativen Teils eines Tarifvertrages wirken wie ein Gesetz auf die Arbeitsverhältnisse ein. Individuelle Abmachungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer oder solche, die in der Rangfolge unterhalb des Tarifvertrags anzusiedeln sind, sind rechtsunwirksam – Unabdingbarkeit. Abweichungen von den tarifvertraglichen Regelungen sind nur zugunsten des Arbeitnehmers bzw. nur dann zulässig, wenn es durch Tarifvertrag ausdrücklich zugelassen ist. In diesem Sinne stellen die tarifvertraglich vereinbarten Normen Mindestarbeitsbedingungen dar.
Tarifgebunden sind aber nicht nur die Mitglieder der Gewerkschaften, mit denen die öffentlichen Arbeitgeber die Tarifverträge unmittelbar aushandeln bzw. abschließen, sondern auch die Angestellten kleinerer anderer Gewerkschaften, wie z.B. der Gewerkschaft „Öffentlicher Dienst“ im christlichen Gewerkschaftsbund Deutschland (GöD), mit der der Bund Anschluss-Tarifverträge abgeschlossen hat.
Die Frage, warum die öffentlichen Arbeitgeber nicht auch mit diesen deutlich kleineren Berufsverbänden ebenfalls verhandeln, ist rein zweckmäßig zu werten. Je größer die Zahl der Verhandlungspartner, um so komplizierter und aufwändiger sind erfahrungsgemäß die Verhandlungen.
In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass Arbeitgeber nicht gezwungen werden können, mit bestimmten oder allen Gewerkschaften, auch wenn diese es noch so nachdrücklich fordern, zu verhandeln. Jeder bestimmt selbst, mit wem er direkt verhandeln will. Weder aus Art. 9 Abs. 3 GG noch aus anderen einschlägigen Bestimmungen kann Gegenteiliges entnommen werden.
2.Tarifgebundenheit des Arbeitgebers
40
Tarifnormen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen sind nach § 3 Abs. 2 TVG bereits dann anwendbar, wenn der Arbeitgeber tarifgebunden ist; insoweit genügt alleine die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers.
Hierbei ist von einer Betriebsnorm auszugehen, wenn diese zum einen unmittelbar die Organisation und die Gestaltung des Betriebes betrifft. Zum anderen ist ein tatsächlicher oder rechtlicher Zwang zu einer einheitlichen Geltung für den gesamten Betrieb erforderlich. Kann eine Regelung folglich, weil dies aus sachlogischen Gründen „evident unzweckmäßig“ wäre, nicht Inhalt eines Individualarbeitsvertrages sein, so etwa, wenn sie dem Arbeitgeber vorschreibt, welcher Prozentsatz der Belegschaft mit einer verlängerten regelmäßigen Arbeitszeit beschäftigt werden darf, handelt es sich um betriebliche Fragen.
Betriebsverfassungsrechtliche Fragen betreffen demgegenüber die Rechtsstellung der Arbeitnehmerschaft und ihrer Organe.
Ist § 3 Abs. 2 TVG einschlägig, setzen die Tarifparteien folglich auch für nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer, sog. Außenseiter, verbindliche Rechtsnormen.
3.Allgemeinverbindlicherklärung
41
Wird ein Tarifvertrag nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärt, gelten seine Normen auch für die nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Von dieser Möglichkeit hat das insoweit zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales für den öffentlichen Dienst bislang keinen Gebrauch gemacht.
4.Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag
42
Der größte Teil der Arbeitnehmer ist gewerkschaftlich nicht organisiert. Folglich ist in diesen Fällen – von den zuvor genannten Ausnahmen nach § 3 Abs. 2 TVG und § 5 TVG abgesehen – eine gesetzlich begründete Tarifbindung nicht gegeben. Die in Art. 9 Abs. 3 GG verankerte negative Koalitionsfreiheit gewährleistet denn auch das Recht des Einzelnen, einer Koalition fernzubleiben und damit auch den Rechtswirkungen des den Koalitionsverhandlungen zugrunde liegenden Tarifvertrages.
Da eine Unterscheidung nach Gewerkschaftszugehörigkeit, insbesondere unter dem Aspekt – gleiche Leistung, gleicher Lohn –, jedoch zu beträchtlichen innerbetrieblichen Spannungen führen würde, werden häufig Bezugnahmeklauseln in die Arbeitsverträge aufgenommen. Diese haben zur Folge, dass der Inhalt des Tarifvertrages zum Inhalt des Arbeitsvertrages wird. Damit entfaltet der Tarifvertrag nicht normative Wirkung wie bei den Gewerkschaftsmitgliedern, sondern schuldrechtliche. Die Gewerkschaften stehen diesen Vereinbarungen kritisch gegenüber, kommen doch hierdurch auch nicht organisierte Arbeitnehmer – als sog. „Trittbrettfahrer“ – in den Genuss der mühsam erkämpften tarifvertraglichen Leistungen.
Abgesehen von den Ausnahmen des § 1 Abs. 2 TVG werden mit den Beschäftigten im öffentlichen Dienst solche auch als „Unterwerfungsklauseln“ bezeichneten Gleichstellungsabreden vereinbart. Ist eine Bezugnahmeklausel nicht in den Arbeitsvertrag aufgenommen worden, kann dennoch ausnahmsweise eine Gleichstellung der Außenseiter aufgrund stillschweigender Abrede oder aus betrieblicher Übung bestehen.
Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist eine unterschiedliche Behandlung gewerkschaftlich organisierter und nicht-gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer in einem Tarifvertrag zulässig. Sie verletzt die negative Koalitionsfreiheit der nicht-gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer nicht, solange sich daraus nur ein faktischer Anreiz zum Gewerkschaftseintritt ergibt, aber weder Druck noch Zwang entsteht.[17] Danach ist bspw. ein Sozialtarifvertrag, der bestimmte Leistungen nur Beschäftigte, die an einem bestimmten Stichtag Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft waren, zulässig.
Читать дальше