Und so zogen in das verlassene karawlachische Dorf, das jetzt von allen Ober-M. genannt wurde, Wahhabiten ein. Sie setzten für den Anfang mehrere Häuser instand, so viele, wie sie benötigten, und blieben hier, um nach ihren eigenen Gesetzen zu leben. Durch das Dorf M. fuhren jetzt immer öfter Autos mit bärtigen Männern, beladen mit allem Möglichen, und jeder wusste, da kommt ein „Bruder“ oder eine „Schwester“, wie sich die Wahhabiten untereinander nennen. Die Bewohner des Dorfes M. nahmen am Anfang gar nicht so viel Kenntnis von ihnen, denn sie kamen ausgesprochen selten ins Dorf herunter und kauften nur die allernotwendigsten Dinge. Ihre Kinder schickten sie nicht zur Schule, sondern unterrichteten sie selbst, den strengen Prinzipien ihres Glaubens entsprechend. Die Frauen verließen das Dorf nicht. Zuerst dachte man, es handele sich um ehemalige Mudschahedin aus den arabischen Ländern, aber das waren nur zwei, und die waren bald wieder irgendwohin verschwunden. Die Muslime aus dem Dorf M. wurden von den Wahhabiten tadelnd angesehen, denn nur wenige von ihnen verneigten sich fünf Mal am Tag zum Stundengebet, ihre Frauen waren nicht verhüllt, die Mädchen trugen enge Jeans und Minis, sie stöckelten mit hohen Absätzen übers Pflaster, und die meisten Männer tranken nicht nur Sliwowitz, sondern brannten ihn sogar, denn die Gegend ist bekannt für ihre Pflaumen und den guten „weichen“ Sliwowitz. Zwar hielten nach dem Krieg viele Bewohner den ganzen Ramadan ein und kamen auch freitags viel mehr Menschen zum Mittagsgebet zusammen als in den Jahren vor dem Krieg, aber die Wahhabiten sahen in ihnen trotzdem schlechte Gläubige.
Es war Dezember, als der Regen endlich aufhörte. Es hatte sich abgekühlt, und die Luft roch nach Schnee. An diesem Morgen startete ich den Käfer und wollte ins Dorf zum Einkaufen, bevor der Schnee die Straße zuwehen würde. Der Schlamm auf dem Weg war gefroren, die dünne Eisschicht unter den Rädern zersprang hörbar. Als ich ankam, stand vor dem Laden ein blauer Kleintransporter. Von dem einachsigen Hänger luden zwei Burschen in Blaumännern Kartons ab. Ich parkte hinter dem Transporter und ging zum Laden. Auf der Hauptstraße des Dorfes war niemand. Auf dem Bänkchen vor der Moschee saßen keine alten Männer. An der Moschee war eine grüne Fahne mit weißem Halbmond und Stern aufgezogen. Aus den Schornsteinen auf den Hausdächern wand sich weißer Rauch.
Noch bevor ich hineingehen konnte, kam einer der Blaumänner aus dem Laden heraus. Er hatte einen weißen Verband über dem rechten Auge, mit einem Pflaster befestigt. Er blieb kurz stehen, als er mich sah, und machte eine Geste, als wolle er mich vorbeilassen. Dann sah er den Käfer und fragte, ob das mein Auto sei. Ich sagte, ja. Stört es Sie vielleicht? Er fragte, ob ich der und der sei. Mit einem unbehaglichen Gefühl wand ich mich, trat von einem Fuß auf den anderen wie ein Verdächtiger, wenn ihn die Polizisten nach dem Personalausweis fragen. Ich sagte, ja: – Der bin ich.
– Ja, wo kommst du denn her, Cousin? – sagte er. Dann gab er mir die Hand und schüttelte sie. Kräftig. Er umarmte mich und küsste mich nach Männerart.
Als er mich nach meinem Namen fragte, wusste ich, wer er war. Ich hatte befürchtet, dass ich früher oder später entdeckt werden würde. Sein Großvater und mein Großvater waren Halbbrüder gewesen, sodass er und ich Cousins zweiten Grades waren. Ich kenne die richtige Bezeichnung für dieses Verwandtschaftsverhältnis nicht, aber verwandt sind wir. Und nachdem sein Großvater fünf Söhne und zwei Töchter hatte und die wiederum ich weiß nicht wie viele Söhne und Töchter, war ich genau genommen mit mindestens dem halben Dorf M. verwandt.
Ihn freute es aufrichtig, mich zu sehen, mir hingegen war es unangenehm. – Wir haben uns ja wohl an die zwanzig Jahre nicht gesehen.
– Oder auch mehr – sagte ich.
Dann schob er mich durch die Tür und rief der Verkäuferin zu, die gerade jemandem eine SMS schickte:
– Almasa, kennst du den hier? Erinnerst du dich nicht? Ach ja, du warst noch zu klein. Oder du warst vielleicht noch gar nicht geboren, als unser Cousin das letzte Mal bei uns war.
Dann sagte er, dass das seine jüngste Schwester sei. Ich gab ihr die Hand, sie nahm sie schlaff. Sie lächelte, und in ihren Augen war diesmal kein Spott.
– Ich habe sofort gesehen, dass er von uns abstammt – sagte sie. Das klang ironisch, aber ich war mir nicht sicher.
Ich wollte Salih auf einen Kaffee einladen, aber er sagte, dass vor zwei Tagen der Ramadan begonnen habe und dass er faste.
– Das ganze Dorf fastet, du kannst nirgends auf einen Kaffee gehen. Du kannst dir nicht einmal eine Zigarette anstecken, alle schauen nur, dass keiner sich eine anzündet oder um Gottes willen etwas in den Mund steckt. Wie die CIA und der KGB zusammen. Da fehlt nur noch Tito. Alle reden irgendeinen Scheiß, ob nun so oder anders. Damals haben sie uns wegen der Religion verfolgt, mal durftest du nicht in die Moschee, mal durftest du nicht in die Kirche, mal dies, mal das. Ich fick ihnen die Mutter, den einen genauso wie den anderen.
Hinter der Kasse rief seine Schwester, er solle still sein oder seinen Unsinn draußen verzapfen und nicht bei ihr im Laden.
Ich fühlte mich in einen Fluss fallen, aus dem ich nicht mehr herauskommen würde.
Salih ging für einen Augenblick hinaus. Er rief dem anderen jungen Mann im Blaumann etwas zu, der stieg in den Transporter, startete ihn und fuhr weg.
– Lass uns nach hinten ins Magazin gehen und ein Bier trinken – sagte Salih, als er in den Laden zurückkam.
Seine Schwester murmelte etwas vor sich hin, als wir durch den Laden zu einer Tür gingen, die zu einem kleineren, mit Schachteln, Tüten und Kisten vollgestellten Raum führte. Wir setzten uns jeder auf einen Kasten Bier. Er zog unter sich zwei „Tuzlanske“ hervor, öffnete eins mit dem Feuerzeug und reichte es mir, dann öffnete er das zweite, der Kronenkorken flog ans andere Ende des Lagers, er steckte den Mittelfinger in den Flaschenhals und zog ihn mit einem lautem „Plopp“ heraus. Er prostete mir zu und leerte die halbe Flasche auf einen Zug. Bier schmeckt mir nicht. Bier trinke ich nur im Sommer, wenn es heiß ist und das Bier kalt und man den Geschmack nicht spürt. Aber weder ich noch Salih tranken es wegen des Geschmacks.
Wir rauchten. Wir tranken ein Bier nach dem anderen und gingen alle fünf Minuten auf die Toilette. Schon lange hatte ich mich nicht mehr betrunken, und es tat mir gut. Salih musste ich nichts fragen und ihm auf Fragen auch nicht antworten. Er erzählte von den Kriegsjahren, davon, wie er Hunger gelitten, wie er geschossen und wie er Angst gehabt hatte. Wie sie gemeinsam, er, die drei Brüder und der Vater, an die Front gegangen waren. Zu Hause die Mutter und zwei Schwestern. Und wie man ihnen nicht erlaubt hatte, zusammen an ein und dieselbe Stellung einzurücken, damit sie nicht alle auf einmal umkommen.
– Aber, scheiß drauf, wenn die angreifen, wer fragt dich da, ob neben dir im Graben dein Bruder oder dein Vater oder sonst ein Arsch liegt.
Und so habe er ein Auge verloren, sagte er und zeigte darauf. Auch ein kleines Stückchen vom Stirnknochen, aber das sähe niemand, weil alle nur auf das Auge sähen. Ich sah auf die mit einem dünnen, weißen Stück Gaze bedeckte Einbuchtung. Das weiße Gewebe war mit hautfarbenem Heftpflaster abgeklebt, damit es möglichst wenig auffiel. Aber man konnte genau sehen, dass darunter kein Auge war. Darunter gähnte ein Loch, vermutlich bedeckt von einer dünnen Hautschicht. Ich wollte ihn fragen, ob er es mir zeigt, aber ich hatte Angst. Später würde ich jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, dieses Bild vor mir haben. Etwas anderes machte mir aber noch mehr Angst. Was, wenn er die Gaze abnahm, mir das Loch zeigte und ich aufschrie, meine Augen zuhielte oder mich übergäbe. Oder noch schlimmer: Was sollte ich ihm sagen, wenn der Anblick in mir gar keine Gefühle auslöste? Ist echt cool, das Loch, steht dir ausgezeichnet. Jemand anders hätte vielleicht gesagt, er solle sich doch ein Glasauge einsetzen, aber ich wusste, dass er das nicht tun würde. Wer immer mit ihm spräche, würde nicht in sein gesundes, grünes Auge sehen, sondern in die starre Glaskugel.
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