Und doch, sagte ich, eine sowohl richtige wie den Lebensweisen beider ganz entsprechende Zahl, wenn jenen Lebensweisen Tage, Nächte, Monate und Jahre zukommen.
Und die, sagte er, kommen ihnen doch gewiss entsprechend zu.
Wenn nun der tugendhafte und gerechte Mensch den schlechten und ungerechten um so viel an Lust übertrifft, um wieviel unendlich mehr muss er ihn erst an innerer und äußerer Bildung, an Tugend und an Tüchtigkeit übertreffen!
Freilich unendlich, bei Zeus! sagte er.
Gut denn, sprach ich weiter. Da wir nun an diesem Punkte unserer Aufgabe angelangt sind, wollen wir auf diejenige Behauptung zurückkommen, die am Anfang aufgestellt wurde und auf deren Veranlassung wir nach langer Untersuchung hierher geführt wurden. Es lautete aber jene Behauptung: Unrechttun sei vorteilhaft dem meisterhaft Ungerechten, wenn er dabei den Schein des Gerechten habe. Oder lautete sie nicht so?
Ja, so lautete sie.
Nun, sagte ich, dann wollen wir mit dem, der dies behauptete, noch ein Wort reden, nachdem wir durch unsere Untersuchung sowohl hinsichtlich des Unrechttuns als des Rechttuns darüber einig sind, was es mit beiden auf sich hat.
Wie denn? fragte er.
Indem wir in Gedanken ein Bild von der Seele aufstellen, damit der, welcher jene Behauptung äußerte, recht augenfällig sieht, was er damit behauptet.
Was für ein Bild denn? fragte er.
Eines von solchen Wesen, antwortete ich, wie es solche der Fabel nach vor alters gab, wie die Chimaira, die Skylla, den Kerberos, und wie noch von vielen anderen gefabelt wird, dass bei ihnen vielerlei Tiergestalten in eine einzige verwachsen gewesen seien.
Ja, sagte er, die sind bekannt genug.
So schaffe dir denn einmal erstlich eine Gestalt eines vielfach zusammengesetzten und vielköpfigen Tieres, das rundum Köpfe von teils zahmen, teils wilden Tieren hat, dabei imstande ist, sich in alle diese Tiere zu verwandeln und auch alle diese Tiere aus sich zu erzeugen.
Dazu erfordert es, sagte er, einen erstaunlich geschickten Bildners, da aber indessen ein Gedanke sich leichter als Wachs behandeln lässt, so soll jenes Bild in Gedanken geschaffen sein.
So schaffe dir denn zweitens eine Gestalt eines Löwen, drittens eine Menschengestalt, denke dir dabei die erste Gestalt bei weitem als die größte, die zweite auch der Größe nach als die zweite.
Die zwei letzteren Gestalten, sagte er, sind schon leichter, sie sind geschaffen!
Diese drei Geschöpfe verbinde nun zu einem, so dass sie irgendwie mit einander verwachsen sind!
Es ist geschehen, sagte er.
Nun umhülle sie mit der Gestalt eines Einzelwesens, nämlich mit der eines Menschen, so dass es dem, der nicht in das Innere zu schauen imstande ist, sondern bloß auf die äußere Umhüllung sieht, nur als ein einziges lebendes Wesen erscheint, nämlich ein Mensch.
Die Umhüllung ist in Gedanken geschehen, sagte er.
So lasse uns denn dem, der behauptet, diesem Menschen sei Unrechttun vorteilhaft und Rechttun unzuträglich, bedeuten, dass er hiermit nichts anderes sage, als es nütze demselben, wenn er durch Schwelgerei das vielgestaltige Ungeheuer, den Löwen und das, was zum Löwen gehört, stark machte, wenn er dagegen den Menschen durch Hunger abzehrte und entkräftete, so dass dieser sich müsste hinschleppen lassen, wohin jedes von jenen beiden wollte, und wenn er nicht eines an den anderen gewöhnte und mit ihm befreundet machte, sondern sie einander sich zerbeißen, bekämpfen und auffressen ließe.
Ja, sagte er, das würde ganz der Sinn dessen sein, was der behauptet, der das Unrechttun anpreist.
Und nicht wahr, wer andererseits behauptet, gerechte Handlungen seien vorteilhaft, der würde damit sagen, man müsse in Tat und Wort sich so betragen, dass dadurch jener Mensch in seiner Brust immer kräftiger werden und auf die Zähmung jenes vielköpfigen Geschöpfs seine Sorgfalt verwenden könne, indem er dem Ackerbauer gleich die guten Triebe nährt und pflegt, die wilden am Emporwuchern hindert, an dem Mut des Löwen sich einen Gehilfen erzieht, für die Bildung aller Seelenteile zusammen Sorge trägt, sie untereinander sowohl wie sich selbst befreundet und in diesem Zustand erhält?
Ja, dies würde andererseits der Sinn dessen sein, was der behauptet, der die Gerechtigkeit preist.
In jeder Beziehung also würde der Lobpreiser des Gerechten Wahrheiten behaupten, der des Ungerechten dagegen Unwahrheiten. Denn man mag auf Lust, auf guten Ruf, auf Vorteil sehen, so behauptet der Lobredner der Gerechtigkeit Wahrheit, der Tadler derselben aber gar nichts Haltbares und tadelt, ohne zu kennen, was er tadelt.
Nein, sagte er, das kennt er wohl durchaus nicht.
Wir wollen also ihn mit guten Worten überreden, denn er ist auf dem Irrwege, ohne zu wissen, was er tut, und wir wollen an ihn die Frage richten: „O Bester, sollte nicht auch das Löbliche und Schlechte aus solchen Gründen ihre herkömmliche Geltung bekommen haben? Hat das Löbliche einerseits ihre Geltung nicht darum, weil sie das tierische unserer Natur unter Menschengewalt oder vielmehr unter das Göttliche bringen? Andererseits die schändlichen, tragen sie ihren Namen nicht darum, weil sie den edlen Teil der Seele in die Sklaverei des wilden bringen?“ Wird jener Ja dazu sagen oder Nein?
Ja, sagte er, wenn er mir folgen wollte.
Kann es also, fuhr ich fort, nach dieser Erklärung noch jemanden geben, bei dem es als Vorteil gelten könnte, mit Ungerechtigkeit Gold zu erhaschen, wenn dabei der Fall der ist, dass er mit dem Gewinne des Goldes zugleich das Edelste seines Selbst in die Dienstbarkeit des Schlechtesten versetzt. Oder in anderen Worten: Wenn jemand für Gold einen Sohn oder eine Tochter in die Sklaverei, und zwar in das Haus wilder und schlechter Menschen, verkaufte, so wäre dies für ihn kein Vorteil, und wenn er noch soviel dafür bekäme. Wenn er aber das Göttlichste seines eigenen Selbst unter die Knechtschaft des Ungöttlichsten und Abscheulichsten bringt, ohne dass es im geringsten Nutzen bringt, ist er da nicht unglücklich und bringt er da für Gold nicht ein bei weitem noch grausameres Opfer als Eriphyle, die für ihres Mannes Leben eine goldene Kette annahm?
Ja, erwiderte Glaukon, ein bei weitem noch grausameres, denn ich will für ihn Antwort geben.
Und meinst du nicht, dass auch die zügellose Begehrlichkeit von alters her aus solchen Gründen als tadelnswert gilt, weil in solchem Wandel jenes böse, große und vielgestaltige Ungeheuer allzu freies Spiel bekommt?
Offenbar, sagte er.
Ferner: Roher Übermut sowohl wie Übellaunigkeit wird getadelt, wenn der löwenartige und bissige Seelenteil übertrieben wird und mit der Vernunft nicht harmonisch gestimmt wird, nicht?
Ja, gewiss.
Weiter: Üppigkeit und Weichlichkeit, werden sie nicht in Rücksicht der übermäßigen Herabstimmung und Nachgiebigkeit eben dieses Seelenteiles getadelt, wenn sie Feigheit in ihm hervorbringt?
Warum sonst?
Schmeichelei und Niederträchtigkeit, werden die nicht getadelt, weil dann jemand wieder eben jenen Seelenteil, den stolzen Zornmut, unter das gemeine Ungetüm bringt und wegen des Geldes und der Freßgierde dies von jenem Ungetüms unterdrücken lässt und von Jugend an sich gewöhnt, statt eines Löwen ein Affe zu werden?
Ja, sicher, sagte er.
Handlangerei und Tagelöhnerei, weshalb, meinst du, bringen sie Schimpf und Schande mit sich? Wohl wegen etwas anderem, als weil jemand den edelsten Seelenteil von Geburt schon so schwach hat, dass er damit die wilden Tiere in sich nicht beherrschen kann, sondern ihnen dienen muss und nur die Dienste, die sie fordern, zu lernen vermag?
Ja, offenbar, sagte er.
Damit auch ein solcher unter gleicher Herrschaft stehe wie der vernünftige, dürfen wir wohl behaupten, er müsse Untertan sein jenem Besten, der das Göttliche als den Herrscher in seiner Brust besitzt? Mit dieser Behauptung wollen wir jedoch nicht gemeint haben, der Untertan müsse zu seinem, des Untertanen, Nachteil beherrscht werden, wie Thrasymachos von den Beherrschten wähnte, sondern, wir lassen uns hierbei von dem Grundsatze leiten, dass es überhaupt für jeden Menschen das Beste ist, sich vom Göttlichen und Vernünftigen beherrschen zu lassen, am allerbesten zwar so, wenn er es als Eigentum in seinem Inneren hat, im anderen Falle aber, dass es als Regent von außen ihm vorgesetzt ist, auf dass wir alle insgesamt so viel als möglich gleich und befreundet leben, indem wir uns durch ein und dasselbe lenken und leiten lassen.
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