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Das ist gerade im Kapitalmarktrecht besonders wichtig. Das Kapitalmarktrecht zeichnet sich durch eine besonders hohe Regulierungsdichte aus, die zudem ständigen Veränderungen unterliegt. Europäische Einflüsse, nationalgesetzgeberische Aktivitäten, aber auch das sich fortbildende Richterrecht lassen das Kapitalmarktrecht als eine unübersichtliche Regelungsflut erscheinen, derer die Kapitalmarktakteure kaum Herr werden.
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Hintergrund für die erhebliche Ausweitung und Änderung der Compliance-Vorschriften für börsennotierte Gesellschaften und deren Aktionäre ist der Boom an den Kapitalmärkten Mitte bis Ende der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts.[16] Man denke nur an die Emission der als eine Art Wertpapier für Jedermann hochstilisierten Aktie der Deutsche Telekom AG, die – als erstes Finanzinstrument überhaupt – ein breites, (semi-)professionelle Anlegerkreise überschreitendes Interesse geweckt hat. Der stetige Kursverfall des Papiers, der zeitweise geradezu dramatische Züge hatte und den Eindruck einer Überbewertung im Zeitpunkt der Emission manifestierte, sorgte zugleich für eine Sensibilisierung breiter Anlegerkreise für die Anlagerisiken, die selbst im regulierten Markt herrschen. Die (faktische) Öffnung des geregelten Marktes für das große Publikum sorgte auch für Missentwicklungen: Die Zahl der börsennotierten Unternehmen erhöhte sich in den neunziger Jahren stark. Viele Unternehmen waren dabei, die, wie sich nachträglich zeigte, nicht börsenreif waren oder im Zuge der allgemeinen damaligen Entwicklungen sehr, teilweise zu hoch bewertet waren.[17] Kleinere und größere Skandale und Insolvenzen, die Schließung des Neuen Marktes als Marktsegment für kleine und noch entwicklungsbedürftige Unternehmen[18] sowie nicht zuletzt groß angelegte Betrügereien (Comroad) haben zu einem stetigen Anpassungsbedarf des rechtlichen Rahmens geführt. Diese Aktivitäten des europäischen und bundesdeutschen Gesetzgebers sind durch die aktuelle Finanzmarktkrise, die Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute, aber auch Emittenten und andere kapitalmarktorientierte Unternehmen als weitere Vertrauenskrise erleben,[19] erheblich beschleunigt worden.
1. Teil Einführung› 1. Kapitel Kapitalmarkt Compliance – Einführung und Übersicht› B. Compliance: Begriff und historische Entwicklung
B. Compliance: Begriff und historische Entwicklung
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Der Begriff Complianceist grundsätzlich nicht ausschließlich auf eine juristische Dimension beschränkt. Vielmehr stammt der Fachbegriff ursprünglich aus der Medizin und beschreibt das therapiegerechte Verhalten von Patienten. Analog wird der Begriff in der Pharmakologie verwendet, wo Compliance die Befolgung von Einnahme- und Dosierungsempfehlungen bedeutet.[20]
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Auch für den Rechtsbereich hat der Begriff der Complianceseinen Eingang in die deutsche Rechtssprache ohne Übersetzung gefunden.[21] Er ist im hergebrachten Sinne mit der Einhaltung von Regeln im weitesten Sinne zu übersetzen.[22] In der Wirtschaft herrscht hingegen eine systematisch geprägte Begriffsdefinition: Danach ist Compliance als Infrastruktur zur Vermeidung von Regelverstößen und Sicherstellung rechts- und regelkonformen Verhaltens in einem Wirtschaftsunternehmen zu verstehen. Hierzu gehören nicht nur die entsprechende organisatorisch eingerichtete Abteilung im Unternehmen[23] und deren Maßnahmen, sondern auch das Regelwerk und die Instrumente zur Umsetzung des Ziels der Haftungsvermeidung. Ob der Bezugspunkt von Compliance „nur“ gesetzliche Bestimmungen und unternehmensinterne Richtlinien sind[24] oder auch vertragliche Verpflichtungen,[25] steht im Einzelfall zur Disposition des jeweiligen Unternehmens.
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Die Anfänge des juristisch geprägten Begriffes Compliance sind umstritten. Teilweise wird vertreten, dass der Begriff in den USAzu Zeiten des kalten Krieges entstanden sei. Hier habe die US-Industrie Compliance-Programme entwickelt, die es der Industrie ermöglichen sollten, mit der US-Exportkontrollgesetzgebung und den damals herrschenden Lieferbeschränkungen in die „Ostblockstaaten“ Schritt zu halten.[26] Große Teile der Literatur sehen den Ursprung jedoch in der anglo-amerikanischen Banken- und Finanzwelt Ende der 1980er Jahre. Hier soll der Begriff als Konzept zur Sicherstellung eines regelkonformen Verhaltens in den klassischen Risikobereichen der Banken verwendet worden sein.[27]
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Dementsprechend entwickelte sich bei den amerikanischen Behörden und Gerichten eine lange und geübte Praxis, Compliance-Programme bei der Strafverfolgung und Sanktionierung von Unternehmen zu berücksichtigen:[28]
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Im Jahre 1991 sind erstmalig die Organizational Sentencing Guidelinesder United States Sentencing Commission in Kraft getreten. Hiernach können Unternehmen strafrechtlich verurteilt werden, sofern ein Mitarbeiter mit Handlungsvollmacht im Rahmen seines Dienstverhältnisses eine Straftat mit der Absicht begeht, das Unternehmen zu begünstigen. Die Höhe der Sanktionen gegen Unternehmen hängt hierbei entscheidend davon ab, ob das Unternehmen mit einem effektiven Compliance-Programm ausgestattet ist.[29] Die Organizational Sentencing Guidelines wurden 1991 als erste Vorgaben zur Schaffung einer funktionierenden Unternehmenspolitik geschaffen. Als Antwort auf zahlreiche spektakuläre Skandale in der Wirtschaft der USA wurden die „Guidelines“ im Jahre 2004 wesentlich verschärft und ergänzt. In der aktuellen Fassung beschreiben die Guidelines unter anderem die wesentlichen Elemente eines wirkungsvollen Compliance-Programms und bieten Unternehmen damit eine Anleitung zur Schaffung effektiver Compliance-Programme.[30] Zu beachten ist, dass die USA die Jurisdiktion in Strafsachen auch über nicht in den USA niedergelassene oder börsennotierte Unternehmen für sich beanspruchen, wenn eine Tathandlung auf dem Territorium der USA erfolgt ist.
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Am 30.7.2002 trat der Sarbanes-Oxley Actin Kraft. Hierbei handelt es sich um ein Bundesgesetz, welches als Reaktion auf Bilanzskandale entwickelt wurde um die Verlässlichkeit der Berichterstattung von Unternehmen des Kapitalmarktes in den USA zu verbessern. Das Gesetz gilt für alle Unternehmen, sowohl US-amerikanische als auch ausländische Unternehmen, die an der New Yorker Börse gehandelt werden.
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Zum 1.7.2011 trat in Großbritannien der UK Bribery Actin Kraft, der sich zwar nicht mit kapitalmarktrechtlicher Compliance, sondern allein mit Korruptionsbekämpfung befasst. Erwähnung soll er hier gleichwohl finden, weil das Gesetz die Einhaltung bestimmter Compliance-Standards mit erheblichen Strafmilderungen für Unternehmen belohnt („Compliance defense“). Allerdings ist laut UK Bribery Act die Einhaltung eines funktionierenden Compliance-Programms auch gerade die einzige Möglichkeit, eine Haftungsreduzierung bzw. -begrenzung zu erreichen. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund für deutsche Unternehmen relevant, indem der Bribery Act laut Gesetzeswortlaut nicht nur für Unternehmen mit Sitz in Großbritannien gilt, sondern für alle natürlichen und juristischen Personen, die geschäftlich in Großbritannien tätig sind, wodurch auch reine Exportgeschäfte deutscher Unternehmen ausreichend wären.[31] Insoweit ähnelt der UK Bribery Act hinsichtlich des Geltungsbereiches den Guidelines der USA.[32]
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Die heutzutage maßgeblichen Vorgaben für den Bereich Compliance im Kapitalmarkt- und Bankrecht im europäischen Raum sind weitgehend auf den europäischen Gesetzgeber selbst zurückzuführen. Ende der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurden die europäischen kapitalmarktaufsichtsrechtlichen Vorschriften erheblich ausgeweitet und geändert. Grund dafür war die starke Erhöhung der Anzahl der börsennotierten Unternehmen und damit einhergehender Unternehmensskandale. Dem Boom an den Kapitalmärkten Mitte bis Ende der 1990er Jahre folgten Misserfolge und Schieflagen sowie die Zunahme von Betrügereien, durch die das Vertrauen der Anleger in den Kapitalmarkt als Ganzes empfindlich beeinträchtigt wurde. Der europäische Gesetzgeber reagierte mit der Einführung verschiedener Schutz- und Transparenzvorschriften.[33]
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