Tagebucheintrag vom 7. April 1832
Zitate wie dieses sind optisch deutlich hervorgehoben; sie werden im Museum zu „Objekten“, die im Grillparzer-Kapitel mit dem sie umgebenden Raum in Beziehung stehen. (Das Bekenntnis zum Raum und davon ausgehend zur Integration szenografischer und multimedialer Elemente war eine der wichtigsten Prämissen bei der Umsetzung des Museums.) Wenn der Beamte und Dichter sich über die ihm unterstellten Archivare beklagt, wenn er fürchtet, vor lauter Amt seine Begabung zur Poesie und Dramatik zu verlieren, dann wird den Besucher:innen mit Blick auf die Arbeitsumgebung des Archivdirektors anderes oder mehr deutlich als bei der Buch-Lektüre.
Die erwartbaren Objekte, Handschriften und auch Zeichnungen Grillparzers, illustrieren nochmals die Spannung zwischen dem Beamten und dem Dichter. Zu sehen ist etwa das Urlaubsgesuch, das Grillparzer stellt, als er 1826 beabsichtigt, eine Deutschland-Reise zu unternehmen und bei dieser Gelegenheit neben deutschen Geistesgrößen wie Tieck oder Hegel auch Goethe in Weimar zu besuchen. Am 3. Juni 1826 bittet der damalige Hofkonzipist untertänigst um Urlaub:
Der Unterzeichnete wagt es zu bitten, den im verfloßenen Herbste zu einer Reise nach Paris erhaltenen 8wochentlichen Urlaub, an dessen Benützung ihn damals die vorgerückte Jahreszeit hinderte, gegenwärtig zu einer Reise nach Dresden, Weimar und Berlin benützen zu dürfen.10
Der Urlaub wird gewährt und es kommt schließlich zur erhofften und mit Nervosität erwarteten Zusammenkunft mit Goethe:
Als es aber zu Tische gieng und der Mann, der mir die Verkörperung der deutschen Poesie, der mir in der Entfernung und dem unermeßlichen Abstande beinahe zu einer mythischen Person geworden war, meine Hand ergriff um mich in’s Speisezimmer zu führen, da kam einmal wieder der Knabe in mir zum Vorschein, und ich brach in Thränen aus.11
Der Dramatiker Grillparzer ist in der Handschrift der „Libussa“ präsent. Das zwischen 1825 und 1848 entstandene Stück reicht in die „älteste Geschichte Böhmens“ zurück und endet mit der Gründung der Stadt Prag. Mit ihr vollzieht sich der Wandel von einem naturhaften Urzustand friedlichen Zusammenlebens zu einer städtischen Kultur. Libussas große Schlussrede ist eine Vision, die den Gang der Menschheitsgeschichte voraussagt. Am Ende steht die Zweckrationalität eines männlich dominierten Zeitalters. Auch die Wahl dieses Stückes und dieses großen Monologes aus dem umfangreichen Nachlass Grillparzers möchte dazu anregen, den Klassiker weiter zu denken.
Dem emphatischen Anspruch auf lebendige Wahrheit über den Tod hinaus, wie sie der scharfsinnige Publizist und Schriftsteller Ferdinand Kürnberger in einem Nachruf auf Franz Grillparzer vertritt, steht die Auratisierung von Archiv-Objekten gegenüber; was als Vitrinenschatz konserviert wird, dem scheint der Stachel literarischer Widerständigkeit gezogen. Die literarische Überlieferung verkommt zum Schatzkästchen, was Kürnberger voraussah: „Ein schönes Wort: literarische Schätze, für: Blitz, Donner, Hagel, Teufel und Teufelsschwanz! […] Und das ist die Lebensmaske Grillparzers: ausgesandt als ein flammendes Gewitter, um die Luft Österreichs zu reinigen, zieht er über Österreich hin als ein naßgraues Wölkchen, am Rande mit etwas Abendpurpur umsäumt. Und das Wölkchen geht unter!“12
Die „Schätze“ in den Bibliotheken, Archiven und Museen sind zwiespältige Geschenke an die Nachwelt: Sie können Blitz und Donner aussenden, und sie können im milden Sonnenschein zu Museumsstücken einer Repräsentations-Kultur werden. Im Klassiker Grillparzer steckt der Zweifler, der selbstironische Biograph seiner selbst, der mit Sprachwitz ausgestattete Analytiker von Machtverhältnissen. Seine Gegenwärtigkeit steckt in den Texten; es ist nicht leicht, dies zu vermitteln. Gäbe es ein Motto, das der Ausstellung im Literaturmuseums vorangestellt werden könnte, dann würde es ungefähr wie folgt lauten: Die Lust an der Literatur soll sich ihre eigenen Wege suchen. Diese Wege führen alle vom Schauen und Hören zum Lesen und Nachdenken – und wieder zurück.13
Dusini, Arno (2017). Zensur und Diskretion. Zu Franz Grillparzers Selbstbiographie. In: Dusini, Arno/Kaufmann, Kira/Reinstadler, Felix (Hrsg.) Franz Grillparzer: Selbstbiographie. Salzburg und Wien: Jung und Jung, 223–242 (= Österreichs Eigensinn. Eine Bibliothek. Hrsg. von Bernhard Fetz).
Fetz, Bernhard (2021). Der Dichter mit der Kettensäge. Thomas Bernhards zerfetzte Arbeitshose. In: Kaukoreit, Volker/Gausterer, Tanja/Inguglia-Höfle, Arnhilt/Atze, Marcel (Hrsg.) Pässe, Reisekoffer und andere „Asservate“. Archivalische Erinnerungen ans Leben. Wien: Praesens Verlag, 242–246. (= Sichtungen. Archiv. Bibliothek. Literaturwissenschaft. 18./19. Jahrgang).
Fetz, Bernhard (2015). Das Literaturmuseum. 101 Objekte und Geschichten. Salzburg und Wien: Jung und Jung.
Grillparzer Franz (2017). Selbstbiographie. Hg. von Dusini, Arno/Kaufmann, Kira/Reinstadler, Felix. Salzburg und Wien: Jung und Jung, 223–242 (= Österreichs Eigensinn. Eine Bibliothek. Hrsg. von Bernhard Fetz).
Grillparzer, Franz: Ansuchen um Urlaub, 3. Juni 1826. Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv/Finanz- und Hofkammerarchiv, Finanzarchiv Präsidialakten.
Kürnberger, Ferdinand (1967). Feuilletons. Ausgewählt und eingeleitet von Karl Riha. Frankfurt am Main: Insel Verlag, 109–113.
Strigl, Daniela (2016). „Und die Größe ist gefährlich“. Über den schwierigen Umgang mit einem Klassiker. In: Fetz, Bernhard/Hansel, Michael/Schweiger, Hannes (Hrsg.) Franz Grillparzer. Ein Klassiker für die Gegenwart. Wien: Zsolnay Verlag, 9–23.
„Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel“ – Geschichte als Groteske in Büchners Dantons Tod und Grillparzers Bruderzwist in Habsburg
Birthe Hoffmann
Ausgehend von einer Aufdeckung überraschender Affinitäten zwischen Büchners Dantons Tod und der ebenfalls deutlich postidealistischen Geschichtsdramatik Grillparzers, wird in Ein Bruderzwist in Habsburg Grillparzers Reflexion geschichtlicher Prozesse nach der Französischen Revolution angesichts des gespaltenen, unkoordinierten Charakters des metaphysisch heimatlosen Subjekts herausgearbeitet. In Grillparzers nüchterner Analyse der Dialektik von Ordnung und Chaos wird die Autonomie der Dramenfiguren aufgelöst zugunsten einer polyphonen, transpersonalen Reflexion von Fragen der Identität, Recht, Wahrheit, Erkenntnis und persönlicher Verantwortung angesichts einer allumfassenden Krise. Die widersprüchliche und offene Dramenstruktur erlaubt dem Zuschauer somit keinerlei Fixpunkte, und statt als tragisches Sinnangebot des individuellen Opfers an eine ideale Ordnung, erscheint der geopferte und vom Vater verneinte Menschensohn Don Cäsar lediglich als Stellvertreter künftigen Massentötens im Namen der Ordnung – ein Scheitern der Humanität, das nur noch mit einer grotesken Mischung aus Grauen und Lachen in die Zukunft blicken lässt.
Die Französische Revolution ist das Paradigma der Dialektik der Aufklärung, der Idee der Machbarkeit von Geschichte im Namen der Emanzipation, die sich vom Menschen als handelndes Subjekt verselbständigt und in totalitären Terror umschlägt. Sie markiert eine Schwelle in einem Modernisierungsprozess, der alle Aspekte des individuellen und gesellschaftlichen Lebens umfasst, und löst somit nicht nur eine Krise monarchischer und republikanischer Gesellschaftskonzepte aus, sondern fügt sich zu den Erschütterungen erkenntnistheoretischer und metaphysischer Art, bei denen „Immanuel Kant, der große Zerstörer im Reiche der Gedanken, an Terrorismus den Maximilian Robespierre weit übertraf“, wie Heinrich Heine 1834 bemerkte.1 Diese Krise koinzidiert außerdem mit dem dialektischen Umschlag der Anthropologie der Aufklärung, die nun der ‚dunklen‘ Seite des Menschen zunehmend Platz einräumen muss.
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