Grundlegende Überlegungen zu Fragen des Verstehens, der Erziehung und der Förderung sind notwendig, Fragen nach der Orientierung am Kind und nach dem Kindgemässen (Bundschuh, 2019a, S. 249f.). Lerntherapie bedeutet Neuanfang, Neuorientierung, Aufbruch, und den Gedanken der Erziehung und des Verstehens in die Frage nach der Diagnose und Förderung beziehungsweise in den lerntherapeutischen Prozess unmittelbar zu integrieren, das heisst:
Individuell gesehen Weiterführung, Dynamisierung ins Stocken geratener Lernprozesse, Nöte von Kindern und Jugendlichen angesichts übermächtiger institutioneller Mächte wahr- und ernst nehmen, die Entwicklung hemmender – negativer – Kreisprozesse aufbrechen, behindernde Bedingungen in der Umwelt mit aller Entschiedenheit diagnostizieren, in Wort und Schrift benennen und nach Möglichkeit durch Handeln beseitigen. Das betroffene Kind selbst durch Aufzeigen und Bewusstmachung eigener Handlungsfähigkeit sowie positiver Erweiterung des Selbstbildes und der Selbstkompetenz ermutigen, eigene Kompetenzen und Ressourcen zu erkennen und zu nutzen;
Belebung sozialer Prozesse – Interaktionen und Begegnungen – durch Förderdiagnostik und Analyse separierender sowie behindernder Bedingungen sowie Anschluss an neue soziale Gemeinschaften im Sinne von Integration und Inklusion (Bundschuh, 2010, S. 93–99);
im Bereich der Eltern durch Vermittlung von Hoffnung, Mut und Stärkung des Willens zu Erziehung und Förderung, Öffnung von besseren Perspektiven für die Zukunft angesichts deprimierender Erfahrungen – «Unser Kind leistet zu wenig oder nichts, passt sich nicht dem Unterricht an», «stört ständig im Unterricht», «erreicht die nächste Klasse nicht» – im Kontext Schule und Lernen sowie Verhalten.
Insgesamt gesehen meint «Aufbruch» das Aufbrechen und Zerbrechen hemmender Erfahrungen und Strukturen im Bereich Familie, Alleinerziehender, im System Schule, insbesondere aber auch im Bereich des Kindes selbst, das geprägt ist von einer Fülle negativer, hemmender und behindernder Erfahrungen, die auch als «Teufelskreis Lern- und Verhaltensstörungen» bezeichnet werden können.
Therapie und Unterricht gehen von zwei unterschiedlichen Konzepten aus. Unterricht vermittelt aktiv Inhalte und Techniken. Bei der Therapie stehen Prozesse wie Selbstbestimmung und Entwicklung sowie die Beziehung zwischen Lernendem oder Lernender und Therapeut oder Therapeutin im Zentrum des Interesses. Auch wenn die Lerntherapiestufe I der «Vermittlung» sehr nahekommt, versteht sich diese wie die «Lerntherapie» als Ganzes sowohl von der «Verknüpfung» von Persönlichkeit und Lernen als auch von ihrem therapeutischen Handlungsansatz her als Therapie. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil ihr die Persönlichkeit der Lernenden letztlich immer wichtiger ist als ihr Lernen: «Das Wichtigste ist immer der Lernende» (Metzger, 2008, S. 235). Man kann in Erweiterung auch sagen, dass Lerntherapie quasi ein «Learning-System» in sich darstellt. Es spricht vieles dafür, dass Lerntherapeuten mit jedem Klienten neue Erfahrungen machen und auch dabei lernen, dass sich die Lerntherapie entsprechend den Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft verändern, neu orientieren und sich auch weiterentwickeln muss, ohne dabei die Grundprinzipien aus dem Auge zu verlieren. Da Persönlichkeitsentwicklung und Lernen miteinander einhergehen, ist das eine nicht ohne das andere zu betrachten. Lernen geschieht durch die Persönlichkeit. Die Persönlichkeit ihrerseits entwickelt sich in und durch Beziehung. Um diese Prozesse zu fördern, verhalten sich die Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten nicht als «Lehrmeisterin» oder «Trainer», sondern begeben sich in eine sensible therapeutische Haltung und Beziehung. Diese fördern und erleichtern Veränderungen und damit Entwicklungs- und Lernprozesse.
3.9 Grundlegende Prinzipien lerntherapeutischen Vorgehens im Kontext Orientierung am Kind
Zuerst geht es darum, das Kind zu verstehen zu versuchen, eine Vertrauensatmosphäre und eine gute Beziehung herzustellen.
Jedes Kind hat einen Entwicklungsstand, eine Lernausgangsbasis beziehungsweise Lernausgangslage. Diese gilt es mit förderdiagnostischen Methoden wie Anamnese, Verhaltensbeobachtung, Kind-Umfeld-Analyse, Screenings und gegebenenfalls psychologischen Tests zu finden.
Jedes Kind hat Ressourcen, Stärken, Kompetenzen und Möglichkeiten, daran sollte man anknüpfen.
Dann gilt es, einen – vorläufigen – an den individuellen Möglichkeiten orientierten Förder- und Lerntherapieplan zu erstellen, wobei die Ziele erreichbar sein müssen. Diese Planung muss für zukünftige Entwicklungen offen sein.
Die Erfahrungen des Klienten «Ich kann nichts oder nur wenig» lässt sich durch die Erfahrung «Ich kann ja etwas, ich habe Erfolge» ablösen.
Lernprozesse sollen in Richtung Zone der nächsten Entwicklung initiiert werden, also Lernen Schritt für Schritt, dabei ist es wichtig, Eigenkonstruktionen des Klienten oder der Klientin zu berücksichtigen, das heisst Über- oder Unterforderung zu vermeiden, gegebenenfalls Lernprozesse zu variieren.
Das bedeutet, auf Motivation, das heisst, auf Freude am Lernen beziehungsweise Handeln, zu achten und den Förderprozess entsprechend den grundlegenden Bedürfnissen von Kindern nach Emotionalität, Beziehung, Neugierde, Bewegung und Wahrnehmung zu gestalten. Der Förderprozess sowie konkrete Förder- und Lernangebote werden in spielerische Prozesse eingebettet, denn das Spiel als spezielle, intrinsisch motivierte, grundlegende Handlungs- und Lernform vermittelt Freude.
Über erfolgreiche Lernschritte wird gesprochen, neues Können wird transparent gemacht und Lernfortschritte, die zwischen der Lernausgangslage (Ist-Stand) und dem Fortschritt, beziehungsweise dem Lern- und Therapieziel (Soll) passiert sind werden aufgezeigt.
Personen, die Lernende unterrichten und fördern, brauchen Flexibilität und die Fähigkeit, aktuelle Bedürfnisse zu erkennen und in den Förderungsprozess einzubeziehen (vgl. Bundschuh, 2008, S. 189ff.).
Meist findet Lernen als kommunikativer Prozess in enger Verbindung mit der Eigenaktivität und Eigenkonstruktion der jeweiligen Person statt. Entwicklung ist auch in hohem Masse von der Umwelt insgesamt abhängig, die geistige Entwicklung und damit das Lernen von der Kommunikation, von Anregungen und Begegnungen. Der Weg zum Kind, zum Menschen überhaupt, führt über die emotional bedeutsamen und beziehungsstiftenden Prozesse mitmenschlicher Kommunikation.
Lerntherapie trägt dazu bei, dass sich eine Klientin oder ein Klient neu wahrnehmen und sich von behindernden Bedingungen befreien kann. Neuwahrnehmung heisst hier, Möglichkeiten, Fähigkeiten, Ressourcen, Eigenaktivitäten und Kompetenzen kognitiver, sozialer, emotionaler und motorischer Art – trotz behindernder Bedingungen – in den Vordergrund der Wahrnehmung eines Klienten zu stellen. Erziehung und Bildung dürfen nicht vom unversehrten, störungsfreien, vollkommenen menschlichen In-der-Welt-Sein als Voraussetzung und Zielsetzung ausgehen. Jedes Kind trägt die ganze Würde des Menschen in sich und ist in seinem Sosein zu achten, zu akzeptieren und wertzuschätzen. Lerntherapie geht auf der Basis pädagogischer Verantwortung und Fachkompetenz Beziehungen ein, gestaltet und reflektiert sie.
Der Begründer der hier akzentuiert vorgestellten Lerntherapie, Armin Metzger, hat durch seine Publikationen «Lerntherapie. Wege aus der Lernblockade – Ein Konzept» (2001) und «Lerntherapie in Theorie und Praxis» (2008) sowie durch die Gründung des «Instituts für Lerntherapie» in Schaffhausen nicht nur zu einem neuen Verständnis von Lernblockaden, Konzentrationsschwierigkeiten, Motivationsmängeln, Prüfungsängsten und Frustrationspotenzial beigetragen, sondern vor allem auch praktische Wege der therapeutischen Begegnung aufgezeigt.
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