1 ...7 8 9 11 12 13 ...26 Ich erspare den Lesenden einen Erfahrungsbericht zur tagelangen Beschäftigung mit Abfragen verschiedener Suchmaschinen und Katalogen von Bibliotheken. Hingewiesen sei lediglich darauf, dass ich irgendwann entnervt das tat, was uns im Zusammenhang mit seriöser Arbeit aus Anflügen von Scham zögern lässt: ich fragte Wikipedia.[9] Und sieh an: ich fand den entscheidenden Hinweis auf Brigitte Rollett, die den Begriff Lerntherapie bereits in den frühen 70er-Jahren nicht nur verwendet, sondern konzeptuell auch begründet hat. In einem der (teilweise nicht mehr leicht zugänglichen) Berichte stosse ich auf den Satz:
Obwohl Ansätze zu einer gezielten Beeinflussung von Lernstörungen auch im Rahmen der Psychotherapie entwickelt wurden […], hat sich die systematische Therapie von Lernausfällen vor allem auf der Grundlage von Forschungen im Bereich der pädagogischen Psychologie und der empirischen Unterrichtsforschung als eigenständige therapeutische Richtung entwickelt. Zur Abhebung von anderen therapeutischen Zielsetzungen haben wir dafür die Bezeichnung ‹Lerntherapie› vorgeschlagen (Rollett & Bartram, 1975, S. 81f.).
1.4.4 Brigitte Rollett – die ‹Doyenne der Lerntherapie›
Bevor Brigitte Rollett 1979 als Leiterin der Abteilung für Entwicklungspsychologie und pädagogische Psychologie des Instituts für Psychologie an die Universität Wien berufen wurde, hatte sie ab 1964 Professuren für pädagogische Psychologie an der Pädagogischen Hochschule Osnabrück, der Gesamthochschule Kassel und der Ruhr-Universität Bochum inne.[10] Heute ist sie emeritiert – und immer noch aktiv.
Sie hat zusammen mit Mathias Bartram ab den 70er-Jahren das Langzeitprojekt der Lerndiagnose und Lerntherapie entwickelt und wissenschaftlich evaluiert. Die frühen Publikationen dazu erfolgten in Kooperation mit Bartram.[11] Dies ist von Bedeutung: das Konzept ist somit in Deutschland entstanden – die wissenschaftliche Forschung dazu ging ab 1979 in Wien weiter.
Ausgangspunkt bildet die Erfahrung, dass «in der Praxis der Erziehungsberatung und der Kinderpsychotherapie» zwar eine «Mehrzahl der Kinder wegen Schulschwierigkeiten vorgestellt wird», Lernprobleme aber häufig nur als «Symptom anderer emotionaler Störungen» verstanden werden. Eine Lerntherapie im engeren Sinne bleibt in der Regel dem «Geschick» und der «natürlichen Begabung» des Nachhilfelehrers überlassen (Rollett & Bartram, 1975, S. 81). «Charakteristisch für den lerntherapeutischen Ansatz ist, dass Lernstörungen nicht als bloßes Symptom angesehen werden, sondern als Teil der Ursachenmatrix für das gestörte Verhalten des Kindes. Die therapeutische Beeinflussung der Lernstörung wird daher systematisch in den Behandlungsplan miteinbezogen» (a.a.O., S. 82). Voraussetzung dazu ist eine differenzierte Lerndiagnose, die den schulischen Leistungsstand erfasst und mögliche Störbedingungen des Aneignungsprozesses im Persönlichkeitsbereich oder in sozialen Beziehungen der Klienten identifiziert.
Und weiter: «Um Chancengleichheit zu gewährleisten, ist es notwendig, die Techniken der Lerndiagnose und -therapie auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage aufzubauen und sie in der Schule zu institutionalisieren», wie dies mit dem Beispiel der «Implementation der Legasthenikerförderung im Bildungsplan des heutigen Schulsystems» gelungen ist (a.a.O., S. 82). Das Projekt verfolgt also das ambitionierte Ziel einer ins Schulsystem integrierten Lerntherapie – was auch impliziert, dass sie allen ihrer Bedürftigen offenstehen sollte.
Die Autorin und der Autor definieren die Lerntherapie sehr allgemein: Sie «beschäftigt sich mit jenen Verfahren, die die Herstellung eines bestimmten ‹sachstrukturellen Entwicklungsstandes› ermöglichen» (a.a.O., S. 82). Da muss man genau hin-lesen: Die Lerntherapie wird hier nicht als die Tätigkeit der Lerntherapeutin oder des Lerntherapeuten verstanden, sondern als Sammlung verschiedener Verfahren verschiedener Fachleute .[12] Diese reichen von heilpädagogischen Programmen zur Behebung spezifischer Lernstörungen, von pädagogisch-psychologischer Beratung von Klienten, Eltern und Lehrkräften bis hin zu psychotherapeutischen Einzel-, Gruppen- oder Familientherapien. Im Terminus des sachstrukturellen Entwicklungsstandes steckt einerseits Normatives, welches durch die schulstufenspezifischen Curricula des Bildungssystems vorgegeben ist. Anderseits muss der Begriff für die Lerntherapie weiter gefasst werden, damit im Prozess der Klärung der Ziele der therapeutischen Intervention «die Wünsche und Bedürfnisse des Klienten und der unmittelbar betroffenen Sozialpartner» ebenso einbezogen werden können, «wie die lerndiagnostischen Befunde» (a.a.O., S. 83).
Wo lerntherapeutische Interventionen geplant und wissenschaftlich evaluiert werden sollen, sind Verfahren aus der Kinderpsychotherapie, aus der Heilpädagogik und der empirischen Unterrichtsforschung zu integrieren – was methodische Fragen türmt, deren «Problematik in der Regel hinsichtlich ihrer Komplexität unterschätzt wird» (a.a.O., S. 115). Die jeder Behandlung notwendigerweise vorangehende Entwicklung einer Zielmatrix muss zunächst mit einer individueller Lerndiagnose (die aktuell gegebene Verhaltensmatrix ) abgeglichen werden. Aus diesem Vergleich erfolgt in einem dritten Schritt eine Bestimmung konkreter Behandlungsziele bezüglich der zu erlernenden Sachbereiche und der Beseitigung von – innerpsychischen oder sozialen – Störbedingungen des Lernvorgangs. Erst jetzt können Prioritäten lerntherapeutischer Ziele in einen Zeitplan umgesetzt und die geeigneten lerntherapeutischen Methoden ausgewählt werden (siehe auch Rollett, 1981).
Die Autorin und der Autor beschreiben die methodischen Probleme eingehend und diskutieren Lösungsansätze und -möglichkeiten (Rollett & Bartram, 1975, S. 94ff.). Ohne diese hier eingehend referieren zu wollen, seien beispielhaft einige Punkte genannt. Sie scheinen auch 45 Jahre später für lerntherapeutische Belange gleichermassen relevant und anregend:
Das wissenschaftliche Grossprojekt steht und fällt mit einer sorgfältigen Diagnostik mit vielfältigen Entscheidungs- und Planungsprozessen – welche «bei möglichst geringen diagnostischen Kosten […] zu möglichst hohem prognostischem Nutzen führen» sollen (a.a.O., S. 94). Sie präsentieren ein Beispiel eines algorithmischen Entscheidungsprozesses: ausgehend vom therapeutischen Grossziel Erzielen höherer Arbeitsgeschwindigkeit beim Rechnen sind diagnostische Fragen formuliert, welche schrittweise zu neun möglichen lerntherapeutischen Interventionen aus den Bereichen Schule, Verhaltensmodifikation, sozialpsychologischer und psychotherapeutischer Unterstützung bis hin zur Heilpädagogik reichen – die klein gedruckte Darstellung füllt eine ganze Seite (vgl. a.a.O., S. 96). Die Schreibenden sind sich bewusst, dass «perfektionistische Planungen, die alle möglichen Ausgänge von Entscheidungsprozessen vorweg abklären wollen, gewöhnlich zum Scheitern verurteilt» seien (a.a.O., S. 95). «Diese Entscheidungen können nicht durch eine einmalige ‹große Diagnostik› zu Beginn der Behandlung festgelegt werden. Die aufgrund zureichender diagnostischer Informationen zu Anfang erfolgte Grobplanung sollte vielmehr durch immer präzisere Feinplanung abgelöst werden» (a.a.O., S. 98), welche erst durch diagnostische Informationen aus dem therapeutischen Prozess selbst möglich wird. Rollett moniert (1977, S. 138f.), dass die von Untersuchenden gerne gebrauchten Diagnoseschemata die Klienten belasten, zudem hätten vor allem jüngere einen kürzeren Spannungsbogen und ermüdeten leichter als ältere. Sie plädiert für Sparsamkeit und dafür, zunächst von den wahrscheinlichsten Hypothesen auszugehen, welche mit dem schulischen Lehrplan assoziiert sind – also Legasthenieabklärungen dann, wenn das Zusammenziehen der Buchstaben, Dyskalkulieabklärungen dann, wenn der Zehnerübergang oder das Einmaleins angesagt ist.
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