Wir beobachteten die Küken, die überall herumhüpften. Mittags gesellten wir uns zum Rest der Familie, den Eltern und ihren drei kleinen Töchtern. Seit ein paar Wochen aß ich nicht mehr allein. Der Tisch auf meiner Terrasse war gedeckt – Reis mit Gemüse, wie üblich. Ungeduldig warteten wir darauf, dass die Tomaten reif wurden, ein oder zwei Wochen noch.
Lucile und ich kannten uns allmählich gut. Einziges Manko: Sie war hyperaktiv, was mich dazu zwang, es auch ein bisschen zu sein. Mal machte sie das Essen, mal ich, oder die Eltern wechselten sich ab. Nachmittags arbeiteten wir im Garten, kümmerten uns um die Hühner, sammelten die Eier ein. Donnerstags lieferten wir die Erzeugnisse aus und fuhren unsere Gäste zu einem Bahnhof weit hinter Nizza. Kinder herumzukarren, die zwischen zwei Stapeln Eierpaletten versteckt sind, kam uns schließlich derart normal vor, dass wir uns wunderten, wenn manche Freunde von Roya citoyenne »leer« nach Nizza fuhren.
»Wie, ihr habt niemanden mitgenommen?«, fragten wir sie ungläubig.
Ermaßen wir das Risiko noch? Ich bin nicht sicher. Anfangs war die Straße vom italienischen Ventimiglia ins französische Breil nicht überwacht. Die einzige Gefahr war, dass die Bullen sahen, wie ich bei der Kirche Leute ins Auto lud. Dort trieben sich französische Zivilpolizisten herum, aber wie sollte ich die erkennen, zumal, wenn sie sich als »Gesindel« verkleidet hatten? Bis jetzt waren wir ihnen zum Glück entgangen.
Die Straße von Breil nach Nizza hingegen wurde von der Polizei viel engmaschiger überwacht. Wir starteten in der Morgendämmerung. Lucile fuhr mit dem Kastenwagen voraus, der mit Hoferzeugnissen beladen war. Ich folgte sechs Minuten später mit unseren »Reisenden«. An jeder kritischen Stelle rief Lucile mich an. Wenn sie auf Bullen traf, kein Anruf. In dem Fall verließ ich die Strecke und fuhr ziellos herum oder hielt an. Sie beeilte sich, zu uns zurückzufahren, damit wir nicht lange warten mussten, denn mit meinen hinten zusammengepferchten »Reisenden« war das riskant.
Ihre Rolle erwies sich als schwierig und stressig, aber unsere fast symbiotische Verbindung erleichterte unsere Aktionen. Allein der Klang ihrer Stimme verriet mir, ob die Straße sicher war, ob etwas sie nervös machte oder ob sie Angst hatte. Wenn ich mit Mitstreitern von Roya citoyenne »Reisende« transportierte, war das ganz anders. Viele hielten sich nicht an die Abmachungen, manche telefonierten am Steuer und gingen dadurch ein unnötiges Risiko ein; andere dachten, das Ganze sei ein Spiel, und hielten sich weder an den Abstand zwischen den beiden Autos noch an die Abmachungen für die Telefonate. Jedes Detail zählte. Man sollte nicht sagen: »Achtung, bei der Ausfahrt Monaco sind Bullen«, höchstens: »Ausfahrt Monaco gesperrt«.
Ich habe Autos mit »Reisenden« das Vorausfahrzeug überholen sehen … Der Grund? Der Fahrer wollte pinkeln! »Die Bürgerinitiative Roya citoyenne, eine perfekt organisierte Bande!«, behaupteten der Präfekt und der Staatsanwalt später. Sie hatten keine Ahnung von der Wirklichkeit.
Wenn ich Personen von Ventimiglia mitbrachte, erwartete Lucile sie unten am Weg, beruhigte sie und gewann ihr Vertrauen. Später hielt sie Kontakt zu den Familien und blieb in enger Verbindung mit ihnen. Ich dagegen wollte Abstand halten und sie vergessen, sobald sie weg waren. Zumindest versuchte ich es. Ciao, Petit Bouddha …
Zu der Zeit verlief das Leben bei mir ziemlich normal, in einer Art Ferienstimmung. Auch wenn wir nicht dieselbe Sprache sprachen, waren wir heiter, zumal sich die Gesichter unserer Gäste innerhalb weniger Tage veränderten; ihre Züge wurden gelöster, ihre Brauen entspannten sich, sogar ihr Schritt schien beschwingter zu werden. Abends tranken Lucile und ich Bier bis spät in die Nacht. Betrunken sein hilft, die Dinge nicht mehr so ernst zu nehmen und sich Fantasiewelten auszudenken, um die Brutalität der Umstände aus dem Kopf zu kriegen.
Mit Huberts Hilfe, der uns Ratschläge gab und Kontakte vermittelte, baute Lucile ein gutes Netzwerk auf, dank dem unsere »Reisenden« überall in Frankreich Unterkünfte fanden, vor allem bei Privatpersonen. Man holte die Migranten am Ankunftsbahnhof ab, das ist wichtig. Auch die Pläne, wie wir an Zelte und Decken kamen, funktionierten großartig. Wir baten um zehn und erhielten hundert.
Bei all dem habe ich mich bemüht, Lucile zu schützen. Mit mir zusammen nach Ventimiglia zu fahren, war verboten! Kein Freiwilliger nahm an Fahrten über die Grenze teil; ich zog es vor, allein in Polizeigewahrsam genommen zu werden. Lucile war stark, aber wild, und ich glaubte nicht, dass sie einem Gefängnisaufenthalt standhalten würde; als junge Frau hätte sie eine Menge einstecken müssen.
Während ihrer Zeit im Royatal hat sie solche emotionalen Achterbahnfahrten erlebt, dass ihr das Leben nach ihrem Abschied im März 2017 fade vorkam. »Wenn du ins ›normale‹ Leben zurückkehrst, erscheint dir alles flach«, erklärte sie mir. »Es fühlt sich fast an, als wäre man tot. Im Royatal habe ich Gefühle entdeckt, die ich vorher nicht kannte oder die sich verzehnfacht haben. Das hat mich enorm anpassungsfähig gemacht und mir sogar geholfen, einen Job zu bekommen.«
Der Bahnhof von Ventimiglia ist voller Menschen. Die Schleuser treiben nach Nationalitäten sortierte Gruppen von Migranten vor sich her. Unter ihnen erkenne ich ein Mädchen aus der Kirche wieder, ich fasse sie an der Schulter und halte sie zurück. Der Schleuser kommt auf mich zu. Ich schreie ihn an: »Einen Schritt weiter, und ich polier dir die Fresse und verpfeif dich bei den Bullen da drüben!«
Er schaut mich drohend an, dann wendet er sich wieder seinen Geschäften zu. Er benimmt sich wie der Herr im Haus, unantastbar, und organisiert seinen Menschenhandel wie ein Viehhändler Schafe. Er stellt Gruppen zusammen, lädt sie ins Auto und kassiert, die italienischen Bullen schauen tatenlos zu. Unbehelligt profitiert der Schleuser von den geschlossenen Grenzen und betreibt sein Business. Je härter die Repressionen gegen die Geflüchteten, desto höher sein Tarif. Hier wird alles verkauft: Dienstleistungen, Telefonnummern und die Körper junger Mädchen.
Wenn man künstliche Barrieren errichtet, um Menschen ohne Geld auszusperren, schafft man ein System, das die Gesellschaft sehr viel mehr kostet, den Menschenhandel. Schleuser werden verteufelt, aber ich wiederhole: Wenn man die Bullen abzieht, gibt es keine Schleuser mehr. Es ist wie mit den Drogen – die Kriminalisierung erzeugt den illegalen Handel erst.
Ein paar Monate später kam ich nach einer Verhaftung in der »Mausefalle«, das ist das Untersuchungsgefängnis des Justizpalasts in Nizza, mit fünf Schleusern in Kontakt. Ich unterhielt mich durch die Gitterstäbe mit einem von ihnen, der am Steuer eines Transporters festgenommen worden war, in dem sich etwa zwanzig Personen befunden hatten. Er weinte, sprach kaum Französisch, ich versuchte ihn zu beruhigen. Man hält all diese Schleuser für Schwerkriminelle, dabei sind es oft Verlorene, illegale Einwanderer, Tagelöhner.
Er erklärte mir, dass er für vier Hin- und Rückfahrten zwischen Ventimiglia und Nizza pro Tag vierhundert Euro bekam. Er brauchte Geld und hatte kaum die Wahl. Er war keiner, der Befehle gab, sondern ein Befehlsempfänger, wie man sie oft unter Straftätern findet. Da er niemanden geschlagen oder bestohlen hatte, wusste er nicht, was er falsch gemacht hatte.
Dank seinen Erklärungen habe ich besser verstanden, was sich an der Grenze wirklich abspielt. In Ventimiglia stellen Anwerber die Gruppen zusammen und kassieren das Geld, dann werden den Fahrern Transporter zur Verfügung gestellt. Weder Fahrer noch Anwerber kennen den Auftraggeber, also denjenigen, der diese Zwischenhändler benutzt. Sie allein tragen das Risiko; der Strippenzieher bleibt unantastbar.
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