Die nun elfjährige Prinzessin verlässt ihre geliebte Tante nur ungern. Fräulein von Offelen hat inzwischen in Hannover den Oberstallmeister von Harling geheiratet und ist zur Oberhofmeisterin der Herzogin von Hannover ernannt worden. Liselotte kann sie nun nicht mit nach Heidelberg nehmen. Ein weiterer Schmerz für das Kind. So scheidet Liselotte mit Bedauern und gleichzeitig mit der unauslöschlichen Erinnerung in ihrem Herzen, ein paar wunderschöne, ungetrübte Kinderjahre hinter sich und «nie schönere Tage» erlebt zu haben. Es gilt jetzt, der heranwachsenden Prinzessin etwas mehr beizubringen, als nur Märchen, Gesangbuchlieder und Katechismussprüche. Karl Ludwig ist zwar nicht viel daran gelegen, seiner Tochter zu grossem Wissen zu verhelfen, immerhin aber hat er Pläne mit ihr, zu deren Ausführung eine gewisse Bildung unbedingt nötig erscheint. Denkt Karl Ludwig auch damals noch nicht an eine Verbindung mit dem französischen Hof, so hofft er doch ganz bestimmt für seine Tochter eine glänzende Partie zu finden, die auch seiner Politik Vorteile bringen kann. Es ist ihm daher nicht unlieb, dass Liselotte wieder unter seine direkte Aufsicht kommt. Jedenfalls hat er mit grösserem Verstand und mehr Einsicht als bei der Erziehung seines Sohnes den Erziehungs- und Lehrplan für Liselotte aufgesetzt. Sie hat ihr Lebtag nicht allzuviel Lernstoff in sich aufnehmen brauchen, und die gute Jungfer Colb, die sie im Jahre 1663 zur Erzieherin erhielt, hat Liselotte nie so recht ernst genommen.
Weit besser versteht es der Erzieher ihres Bruders Karl, der Gelehrte Ezechiel Spanheim, die junge Liselotte für seine Weisheit zu interessieren, ohne dass sie direkt an den Unterrichtsstunden des Erbprinzen teilnimmt, der ganz nach den Vorschriften des Vaters erzogen wird. Es fallen genug Brosamen von Spanheims gelehrtem Tisch, die unserer Liselotte zugute kommen. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten im Heidelberger Schloss unterhält sich der Erzieher fast ausschliesslich mit den beiden kurprinzlichen Kindern, und Liselotte sind die kleinen Spässe, die er mit viel Witz und Trockenheit in die Unterhaltung einzuflechten verstand, sowie auch seine grosse Gelehrsamkeit unvergesslich geblieben. Ihr beweglicher Geist fasst rascher die geistreichen Bemerkungen Spanheims, sprudelt selbst eine schlagfertige Antwort heraus, während der Bruder, ein stiller, schüchterner Junge, immer viel länger braucht, ehe er den Sinn der Rede seines Lehrers erfasst. Ueberhaupt ist Liselotte eine viel robustere Natur als der Erbprinz, den die häuslichen Zerwürfnisse der Eltern stark deprimieren. Liselotte ist anderen Schlages. Sie ringt sich durch mit ihrem eigenen Willen und tut nur, was sie will, obwohl auch ihr die harte Hand des Vaters droht. Unter dem Zwang, der über dem ganzen väterlichen Haushalt liegt, lebt das Kind sein Leben für sich. Natürlich zieht sie sich dadurch oft den scharfen Tadel des Vaters zu. Nicht oft genug kann er ihr das gute Beispiel des sanfteren Erbprinzen vor Augen halten. Es sind indes nur vorübergehende Unzufriedenheiten, die Liselotte ihrem Vater bereitet. Ernstlichen Grund zur Sorge hat sie ihm nie gegeben, denn auch in ihrem rebellischen Herzen ist das Gefühl der Pflicht und des Gehorsams so tief verwurzelt, dass sie es nie gewagt hätte, sich dem Willen ihres Vaters ernstlich zu widersetzen.
Auch Liselottes Erziehung ist der Hofmeisterin bis in die kleinste tägliche Einzelheit vorgeschrieben. Man muss jedoch Karl Ludwig Gerechtigkeit widerfahren lassen und zugeben, dass er dabei nicht so pedantisch zuwege ging wie bei seinem Sohn. Besonders vernünftig dachte er in bezug auf die religiöse Erziehung seiner Kinder. Sie sollten vollkommen frei von jeder Konfession sein, und der Religionsunterricht sollte nicht mehr als eine Stunde in der Woche in Anspruch nehmen. Darüber wundert sich sogar Liselotte, die doch bereits vom hannoverschen Hofe her eine gute Dosis Liberalismus hinsichtlich der Kirche kennengelernt hatte. «Mich deucht», schreibt sie später, «dass unser Herr Vater, der Kurfürst selig, uns eben nicht gar eifrig in Religion hat erziehen lassen.» Karl Ludwig stand über den Konfessionen. Es genügte ihm, ein guter Christ zu sein. So auch seine Tochter, die er dazu erzog, dass sie später, als sie längst als Herzogin von Orleans den katholischen Glauben angenommen hatte, sagen konnte: «Der Unterschied des Glaubens bei Lutheranern und Katholiken ist so gering, dass es gar nicht der Mühe wert ist, darüber zu disputieren. Wenn ich die Wahrheit sagen soll, so bin ich, wie Apostel Paulus sagt, weder apollisch, noch paulisch, noch kephisch, weder reformiert noch katholisch oder lutherisch, sondern ich werde soviel wie möglich ist, eine rechte Christin sein und darauf leben und sterben.»
Einen grösseren Raum als der Religionsunterricht nimmt die Anstandslehre im Stundenplan der Prinzessin ein. Aber daraus macht sich Liselotte ebensowenig wie aus dem «Moralisiertwerden» in den Katechismusstunden. Nur die derben und kräftigen Tischreden Luthers gefielen ihr. Für Geister- und Gespenstergeschichten hat sie grosse Vorliebe, hat auch immer einen grossen Vorrat zur Hand, um selbst welche zum besten zu geben. Das übrige findet sie langweilig. Nicht selten hat die Jungfer Colbin, die dem wilden Ungestüm der Prinzessin durchaus nicht gewachsen ist, Grund, sich zu beklagen; denn die Ausgelassenheit ihres Schützlings überschreitet bisweilen die Grenze des Erlaubten. Nimmt doch Liselotte einmal auf einem Spaziergang in ihrem Uebermut die rundliche Rückseite einer behäbigen Heidelberger Bürgersfrau zur Zielscheibe ihrer Armbrust. Die arme Frau, die friedlich ihres Weges schritt, bekam einen solchen Schrecken, dass sie beinahe platt auf die Erde gefallen wäre. Liselotte, froh ihres übermütigen Streiches, will sich totlachen, während die sie begleitende Colbin «vor Scham hätte in die Erde sinken mögen» über die Kühnheit der wohlerzogenen Tochter des Kurfürsten. Lachen und Fröhlichkeit ist für Liselotte Hauptzweck des Lebens, und noch begreift sie nicht das immer wiederkehrende Mahnwort der Hofmeisterin, dass «es nirgends wunderlicher zuginge als in der Welt». Das sollte die Prinzessin erst später einsehen.
So vergingen die Jahre auch in Heidelberg in sorgloser Jugend ebenso rasch wie in Hannover und in Iburg. Die Vergnügungen, die man sich am Heidelberger Hofe gestattete, durften nicht viel Geld kosten. Man ging zur Kirmes und sah sich dann und wann die Vorstellung einer wandernden Schauspielertruppe an. Im Sommer gab es Spaziergänge in die prächtige Umgebung Heidelbergs oder Wasserfahrten auf dem Neckar, im Winter bisweilen Schlittenpartien, sogar nicht selten mit einem Maskenfest verbunden. So ist das Leben im Heidelberger Schlosse doch bei aller Sparsamkeit nicht gerade eintönig. Karl Ludwig umgibt sich gern mit Gelehrten und Künstlern. Am meisten liebt er die englischen Schauspieler. Da aber schon an und für sich um den Heidelberger Hof eine dicke Wolke Klatsch schwebt, und Karl alles Gerede soviel wie möglich vermeiden will, verbietet er den Schauspielern, die er an seinen Hof befiehlt, sich auf ihrer Reise durch die Pfalz als Komödianten auszugeben. In der Verkleidung von Studenten und Gardereitern kamen sie bis an die Grenzbäume, und erst dann trafen sie unter dem Schutze des Kurfürsten ihre Vorbereitungen.
Sehr oft begleitet Liselotte ihren Vater zu diesen fahrenden Künstlern. Aus dieser Zeit ist ihr wohl auch die grosse Vorliebe fürs Theater gekommen, die sie später am Hofe von Frankreich in so hohem Masse befriedigen konnte. Heidelberg aber erscheint ihr doch immer als Paradies auf Erden, wenn sie daran zurückdenkt. Die goldene Freiheit ihrer Jugend bleibt die schönste Erinnerung ihres Lebens. Oft zwar brummt der Vater, dass Liselotte nicht «seriös» genug sei, aber im Grunde genommen, ist sie ja nur sein getreues Ebenbild. Auch Karl Ludwig liebt, trotz aller Strenge und allen Ernstes, einen derben, übermütigen Spass, einmal recht aus vollem Herzen zu lachen. Besucht er doch auch mit seiner Tochter in heiterer Laune die Kirmes von Schwetzingen und Mannheim. Manch fröhliches pfälzisches Volks-Trinklied bringt er ihr bei, und schon sehr früh werden die kurprinzlichen Kinder mit «dem allzeit gesunden» Neckarwein bekannt gemacht. Und so ist Liselotte auch in Heidelberg sehr glücklich unter dem strengen väterlichen Joch. Aber der Gipfel ihres Glückes in dieser Zeit ist doch das Wiedersehen mit ihrer Tante Sophie, die anlässlich der Vermählung des Erbprinzen von Hannover an den Hof kommt. Eigentlich ist die ganze Heiratsgeschichte ihr Werk gewesen; denn der Herzog Ernst von Hannover hat als Erster in sehr lobenden Worten von der dänischen Prinzessin zum Kurfürsten von der Pfalz gesprochen, und Sophie wird später eine warme Fürsprecherin für die Braut.
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