Georg Schwikart
Requiem für meinen Glauben
Georg Schwikart
Requiem für meinen Glauben
Was ich getrost begraben darf und
dadurch an Leben gewinne
Für Beratung bei der Erarbeitung des Manuskriptes danke ich herzlich Prof. Dr. Axel von Dobbeler, Pater Laurentius U. Englisch OFM, Kurt Hägerbäumer, Dr. Michael Schmiedel, Herbert Stangl, Chantal Zimmer-Leflere und Prof. Dr. Stefan Zimmer. Glücklicherweise haben diese Menschen ihre Hilfe nicht an die Bedingung geknüpft, alle meine Ansichten zu teilen .
Bonn, am Ewigkeitssonntag / Christkönigsfest 2021
Georg Schwikart
Der Umwelt zuliebe verzichten wir bei diesem Buch auf Folienverpackung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹ http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
1. Auflage 2022
© 2022 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter.de
Umschlag: Vogelsang Design, Jens Vogelsang, Aachen
Umschlagbild: gettyimages / Jose A. Bernat Bacete
Innengestaltung: Crossmediabureau, Gerolzhofen
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
ISBN 978-3-429-05750-3
eISBN 978-3-429-06573-7
Wie du warst vor aller Zeit, so bleibst du in Ewigkeit?
Tote Glaubenssätze beerdigen
Existiert in Wirklichkeit, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann?
Den Zweifel integrieren statt eliminieren
Und die Bibel hat doch recht?
Gottes Wort – wahre Poesie!
Das Grab ist leer?
Es geht nicht um „leibhaftige“ Auferstehung
Der alles so herrlich regieret?
Gott muss nicht allmächtig sein, um Gott zu sein
Hat das Bittgebet Macht?
Gott hört, aber erhört nicht unbedingt
Jesus – der einzige Weg zum Leben?
Den Absolutheitsanspruch des Christentums überwinden
Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen?
Jesus hat keine Kirche gegründet
Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt?
Die Volkskirche ist tot! Es lebe die Volkskirche!
Beten für die Einheit der Kirche?
Ökumene bleibt eine Chimäre
Gut und Böse – leicht unterscheidbar?
Ethik und Moral sind alles andere als eindeutig
Seht, wie sie einander lieben?
Christinnen und Christen sind keine besseren Menschen
Steht fest im Glauben?
Mit dem Glauben wird man nie fertig
Wie du warst vor aller Zeit, so bleibst du in Ewigkeit?
Tote Glaubenssätze beerdigen
Alles habe ich verkehrt gemacht, vor Jahren. Etwas mehr als 100 Kilometer vor Santiago de Compostela machte ich mich auf den Weg, um den echten Pilgerstatus zu erreichen (100 gelaufene Kilometer sind dafür die Voraussetzung). Anscheinend wusste jede und jeder außer mir, dass man auf dem Camino den Hinweisschildern – einer stilisierten Jakobsmuschel – in Richtung der gelben Strahlen folgt. Ich lief zunächst entgegengesetzt. Am ersten Morgen um 6 Uhr früh bei Regen gestartet, um sieben durchnässt wieder am Ausgangspunkt angelangt, wollte ich bereits frustriert aufgeben.
Ziemlich dumm waren auch die neuen Wanderschuhe – teuer und funktional, aber eben nicht eingelaufen; meine Schmerzen durch die fetten Blasen an den Füßen werden mir hoffentlich vom Fegefeuer abgezogen. Vor allem jedoch trug ich im Rucksack für eine Woche mehr als 15 Kilo Gepäck mit mir herum: sieben T-Shirts, ebenso viel Unterwäsche und Sockenpaare, außerdem mehrere Pullover und Hosen, dazu drei Bücher (von denen ich lediglich ein einziges auf dem Hinflug mal in der Hand hatte, sonst war ich zu erschöpft zum Lesen). Auf dem Pilgerweg erfuhr ich dann von anderen, wie man es richtig macht: mit Funktionswäsche, die über Nacht trocknet; zwei Garnituren genügen also, eine am Leib, eine andere zum Wechseln nach dem Duschen.
Falsch gedeutete Zeichen, schlechtes Schuhwerk, Umwege, viel zu viel Gepäck – obendrein meine Naivität, ich könne ja notfalls ein Taxi rufen, das mich zur nächsten Herberge bringt … wo doch über weite Strecken überhaupt kein Handyempfang möglich war und erst recht kein Fahrdienst bereitstand.
Ich lief schlecht vorbereitet. Aber ich lief. Und kam an.
Es wurde dann eine Woche mit wunderbaren Begegnungen; Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen waren unterwegs. Die Gespräche mit der Finanzspezialistin aus der Schweiz, der Krankenschwester aus England, dem Lehrer aus Polen und vielen anderen, bei Pausen, in der Herberge, abends beim Essen dienten der Völkerverständigung und dem Bewusstsein, wir alle sind fragile Wesen in Bewegung.
Als ich mir in Santiago das Pilgerzertifikat ausstellen ließ, musste ich in einer Liste meinen Namen und meine Motivation eintragen. Hatte ich mich aus religiösen, sportlichen oder anderen Gründen auf den Weg gemacht? Ich war an diesem Tag der Erste, der „religiös“ ankreuzte. Für sportliche Aktivitäten muss ich nicht nach Spanien reisen. Ich wollte Gott begegnen. Und begegnete mir selbst: Die Erfahrung von Erschöpfung und Kraftlosigkeit zeigte mir meine engen Grenzen auf; an einem Tag konnte ich kaum sprechen, nur still den Rosenkranz beten. Aber es gab eben auch den Drang durchzuhalten, nicht aufzugeben und schließlich die Tränen des Glücks, das Ziel erreicht zu haben, in der Kathedrale die Messe zu feiern, die Reliquien des heiligen Jakobus zu verehren und mit Körper, Seele und Geist zu spüren: „Ich hab’s geschafft!“
Ich bin auf mich selbst gestoßen bei dieser Tour, und das war eine sehr religiöse Erfahrung. Mir war auch vorher bewusst, Gott ist in Santiago nicht näher als an meinem Wohnort zu Hause. Aber ich bin pilgernd ein anderer. Aus dem Kopf ist diese Erkenntnis in den Bauch gerutscht: Gott ist in mir. Ich bin in Gott. – Keine Frucht des Denkens, sondern des Laufens.
Die Wanderung ist von alters her ein Bild für den Glauben. Abraham (damals noch Abram genannt) wird von Gott zur Auswanderung aus seiner Heimat aufgerufen, nicht einmal wissend, wohin die Reise geht: „Der HERR sprach zu Abram: Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde!“ (1 Mose / Genesis 12,1). Abraham, schon 75 Jahre alt, hört, was Gott zu ihm spricht. Er hört, er horcht, und weil er und Gott zusammengehören, gehorcht er dem Befehl: „Da ging Abram, wie der HERR ihm gesagt hatte“ (1 Mose / Genesis 12,4). Er geht zuversichtlich los und wird dadurch eine Symbolfigur des Gottvertrauens.
Das Gottvertrauen des Volkes Israel wurde später ziemlich auf die Probe gestellt. Denn nach ihrem erfolgreichen Auszug aus der Knechtschaft Ägyptens zog sich der Weg der Israeliten in die Freiheit in die Länge. 40 Jahre dauerte die Wanderung ins Gelobte Land. Unterwegs durch die Wüste gab es zu wenig Wasser, zu wenig Essen, dafür zu viel Konflikte, zu viel Enttäuschung. Das anfängliche Vertrauen ging verloren. Und wer blieb überhaupt so lange am Leben und kam an?
Die Zahl 40 ist im biblischen Erzählen ein Sinnbild für den Übergang. Wenn ich mit meinen nun 57 Lebensjahren 40 Jahre zurückdenke, so sehe ich Kontinuitäten und Unterschiede zu meinem damaligen Glauben als Jugendlicher. Ich bin immer noch unterwegs, aber als ein anderer, der sich doch in vielem gleichgeblieben ist. Schleppe ich als Glaubenswanderer nicht nach wie vor zu viel Glaubensgepäck mit mir herum? Wäre es nicht sinnvoll, mich von manchem nun endlich zu trennen? Damit der Weg leichter wird. Damit meine Kräfte nicht von einem „Für-wahr-halten-Glauben“ absorbiert werden?
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