Historiker halten es für eher unwahrscheinlich, dass es im Mittelalter einen echten Atheismus gegeben habe. Der Zweifel habe sich auf Inhalte des Glaubens bezogen, nicht jedoch auf das Fundament, sprich: die Existenz Gottes. Da wären wir wieder bei Anselm von Canterbury, der uns genau diese beweisen wollte. Doch wen kann er damit heute noch überzeugen? Mich nicht.
Mit meinem mystischen Zugang zum Glauben kann ich vieles aus der Bibel, der Theologie, der kirchlichen Praxis und Geschichte als Tradition und Folklore akzeptieren; ich muss es nicht „für wahr halten“, kann damit umgehen, auch wenn ich meine Zweifel hege. Doch wenn ich daran zweifle, ob es Gott überhaupt gibt, geht es ums Ganze.
Ohne Gott ist alles sinnlos, durchfährt es mich spontan. Niemand hört mich. Niemand antwortet. Das Leben hat kein Ziel, nichts reicht über meine Erdentage hinaus. Hier und Jetzt, das ist alles, und was da nicht zum Zuge kommt, hat eben Pech. Was wir „Leben“ nennen ist höchst ungerecht, im besten Fall gedämpft von den Anstrengungen der Gesellschaft, einen sozialen Ausgleich zu suchen und auch den Verlierern Chancen zu eröffnen. Aber die meisten Exemplare des Homo sapiens bleiben auf der Strecke. Das alles bestimmende Prinzip heißt eben Zufall. Und ich frage mich, wozu ich morgens aufstehen soll.
Dabei ist mir durchaus bewusst, wie viele Menschen ein erfülltes Leben führen, ohne an Gott zu glauben – und dabei durchaus glücklich sind. Sie finden Erfüllung in der Familie, dem Beruf, ihrem Hobby, genießen ihr Dasein, sie feiern, haben Sex, machen Urlaub, akzeptieren ihre Endlichkeit und haben ein Problem weniger zu lösen als ich, den die Gottesfrage umtreibt.
Gott ist für mich so selbstverständlich da, wie die Luft, die ich atme. Ganz gleich, wo ich bin, ganz gleich, was ich tue, ich befinde mich in seiner Gegenwart. Ich bin in Gott, Gott ist in mir … in dieses Grundgefühl bin ich im Laufe meiner Glaubenswanderung hineingewachsen. Das klingt vielleicht anmaßend, als wäre ich ein begnadeter Heiliger, was Kokolores ist. Ich habe leider keine passenderen Worte für das Verhältnis von Gott und mir. Gott ist „groß“, ich bin „klein“, Gott macht sich „klein“, das macht mich „groß“ – alle Worte und Bilder bleiben schief.
Doch manchmal, unvermittelt, werde ich aus dieser selbstverständlichen Nähe hinauskatapultiert. Dann ist alles weg. Meine kleine Welt wird zum Vakuum. Alles scheint mir absurd. Alles nur schöner Schein, ach, nicht einmal schön ist er. Dann wird mir angst und bange.
Meine Furcht, Gott könne nur Einbildung sein, ist nun wirklich kein hinreichender Grund für seine Existenz, nach dem Motto: Weil ich Gott brauche, muss es Gott auch geben. Die Argumente der Religionskritiker sind das Ergebnis einer auf der Hand liegenden Überlegung. Feuerbach, Freud, Nietzsche und wie sie alle heißen, haben Recht. Religion hat etwas mit dem Schwanken zwischen kindlicher Bedürftigkeit und menschlicher Selbstüberhöhung zu tun. Eine Welt ohne Gott empfinde ich als kalt, aber ich werde mich schon dran gewöhnen und mich wärmer anziehen. Die Vertröstungsmechanismen funktionieren also weiter.
Ob Gott wirklich ist – diese Frage ist keine Sünde und kein Gedanke des Satans, sondern eine aufrichtige Frage. Ein Blick in den Weltraum macht die Formulierung „Gott wohnt im Himmel“ obsolet. Wenn, dann muss Gott auf andere Art da sein. Sollte die Schöpfung Gottes Werk sein, dann stellt sich die Frage, ob er sein Handwerk beherrscht, denn vollkommen ist das Dasein hier auf der Erde nicht gerade. Kurzum, der Verdacht liegt nahe, dass die gesamte Gotteskonstruktion eine Erfindung sein könnte. „Könnte“ ist Konjunktiv, die Möglichkeitsform. Dass Gott nur eine Idee sein könnte, ist so möglich wie seine Existenz.
Die irisch-englische Schriftstellerin Iris Murdoch schrieb 1970 in ihrem Essay „Das Gute überragt alle anderen Begriffe“ gar nicht zweifelnd: „Wir sind das, was wir zu sein scheinen: vorübergehende, sterbliche Kreaturen, der Notwendigkeit und dem Zufall unterworfen. Das heißt, daß es meiner Ansicht nach keinen Gott im traditionellen Sinn dieses Begriffs gibt; und der traditionelle Sinn ist vielleicht der einzige. Wenn Bonhoeffer sagt, Gott möchte, daß wir so leben, als gebe es keinen Gott, mißbraucht er vermutlich Worte. Ebenso sind die vielen metaphysischen Ersatzbegriffe für Gott – Vernunft, Wissenschaft, Geschichte – falsche Gottheiten. Unser Schicksal kann untersucht werden, aber weder gerechtfertigt noch vollständig erklärt. Wir sind einfach da. Und wenn es irgendeinen Sinn oder ein einheitliches Prinzip im menschlichen Leben gibt – der Traum davon geht uns unablässig im Kopfe herum –, dann ist es von anderer Art und muss innerhalb der menschlichen Existenz gesucht werden, außerhalb deren es nichts [anderes] gibt.“
Diese Klarheit hätte ich gern …, aber ich habe sie nicht. Ich kann nicht behaupten, ich wüsste, Gott ist nur ein philosophisches Konstrukt, um dem Dasein Sinn und Farbe zu verleihen. Ich zweifle am Glauben – und ich zweifle am Zweifel.
Wer seine Vernunft gebraucht, zweifelt. Der Verstand ist eine Gabe Gottes. Abraham Geiger, im 19. Jahrhundert führender Vertreter des liberalen Judentums, sagte einmal: „Durch Erforschung des Einzelnen zur Erkenntnis des Allgemeinen, durch Kenntnis der Vergangenheit zum Verständnis der Gegenwart, durch Wissen zum Glauben.“ Den Verstand – in Glaubensdingen – ungenutzt zu lassen wäre eine Zurückweisung von Gottes Großzügigkeit. Gott hat uns das Leben auf diesem Planeten anvertraut, dafür müssen wir unsere Intelligenz nutzen. Vertrauen macht verletzlich, das ist in jeder liebevollen Beziehung so. Gott macht sich angreifbar.
Nach seiner Auferstehung erscheint Christus den Jüngern, die entsetzt sind, als sie ihn sehen. Er fragt sie: „Was seid ihr so bestürzt? Warum lasst ihr in eurem Herzen Zweifel aufkommen?“ (Lukas 24,38) – Warum? Was für eine Frage! Weil das, was die Jünger da erleben, so gar nicht zu dem passt, was sie gewohnt sind. Sie zweifeln, ob ihre Sinne noch intakt sind. Der Zweifel der Apostel ist kein bewusster Akt, er stellt sich als Reflex ein.
Kann man sich vornehmen, nicht zweifeln zu wollen? Haben Hiob oder Thomas „zu wenig“ geglaubt? Sie konnten aufgrund dessen, was sie erlebten, nicht anders als zu zweifeln. Wer den Zweifel unterdrückt, misstraut seiner eigenen Wahrnehmung. Wer Druck aufbaut, muss mit Gegendruck rechnen. Unterdrückter Zweifel kann Gewaltpotential entwickeln, aus Angst vor dem Zweifel entsteht Fundamentalismus. Der Gott, an den ich glaube (und der an mich glaubt), sagt: „Selig, die zweifeln, denn sie nehmen Gott ernst.“ Glauben und Zweifel sind wie ein altes Ehepaar: Sie können nicht mit- und nicht ohne einander.
Wenn ich an der Existenz Gottes zweifle, bin ich bedrückt. Doch je weniger ich gegen den Zweifel ankämpfe, desto seltener bedrängt er mich. Ab und zu zeigt er sich. Und zieht sich wieder zurück. Parallel zum Glauben läuft der Zweifel mit, aber ebenso der Glaube in den Phasen des Zweifels. Der Zweifel wird erst aufhören, wenn der Glaube aufhört – also wenn ich übergehe ins „Schauen von Gottes Angesicht“. – Diese altertümliche Formulierung ist mir seltsam unangenehm, Kirchenvokabular weitab von unserer Wirklichkeit, aber ich weiß es nicht besser auszudrücken.
Ich hatte einst die Vorstellung, irgendwann sei ich mit dem Zweifel durch. Irgendwann herrsche Ruhe. Doch Gott lässt sich nicht beweisen. Wer meint, die Schönheit einer Berglandschaft sei genügend Beweis für die Existenz Gottes, verkennt die Ernsthaftigkeit des Problems. Der Glaubende interpretiert die Welt aus seiner Sicht. Der Zweifler sieht sie aus seiner Perspektive: Das herrliche Alpenpanorama ist nicht mehr als eine Spätfolge des Urknalls.
Den Wunsch, den Zweifel loszuwerden, muss ich begraben. Ich will den Zweifel integrieren statt eliminieren. Ihm einen Platz lassen in meinem Innern. Er gehört zu mir wie andere Dinge, auf die ich nicht unbedingt stolz bin, mit denen ich mich eben versöhnen muss. Wenn Glaube Vertrauen bedeutet, dann ist Zweifel eine Vertrauenskrise. Die kommt in jeder Liebesbeziehung vor. Es muss gar nicht die Sorge sein, betrogen zu werden. Es kann auch um die Frage gehen, was man füreinander ist. Wenn eine frische Liebe die symbiotische Phase verlässt, in der man dauernd aneinandergeklebt hat, ist das die notwendige Voraussetzung, damit eine reife Partnerschaft wachsen kann. Liebende müssen sich aufeinander verlassen können, aber sie haben auch ein eigenes Leben. „Wenn man auch das Kopfkissen teilt, so sind die Träume doch verschieden“, lautet ein Sprichwort aus der Mongolei. Abweichende Geschmäcker und Meinungen können wir aushalten, sogar Pausen in der Beziehung, um sich neu füreinander entscheiden zu können.
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