Wer wie ich von klein auf christlich sozialisiert wurde, hat viele Glaubensinhalte verinnerlicht. Wir können Gebete und Lieder auswendig, orientieren uns am Kirchenjahr, sind mit biblischen Texten vertraut, wissen um theologische Wahrheiten und verfügen über Grundkenntnisse der Kirchengeschichte. Das ist ein großer Schatz.
Aber darin liegt auch die Gefahr der Erstarrung. Wir bleiben in den (Er)Kenntnissen unserer Kindheit und Jugend stecken. Machen es immer so weiter, wie wir es gelernt haben. Die Macht der Gewohnheit ist gewaltig. Sollten wir dennoch spüren, das passt ja gar nicht mehr zu mir und meiner Zeit, dann kann es sein, dass wir nicht nur Einzelheiten verändern, sondern den ganzen alten Zopf auf einmal abtrennen. Es gibt heute zahlreiche Menschen, die im fortgeschrittenen Alter ihre Kirchenmitgliedschaft aufkündigen. Das mag spezielle Gründe haben, doch meistens geht dem auch eine lange Phase der Entfremdung vom Glauben voraus. Da ist der Glaube nicht mitgewachsen, konnte nicht erwachsen werden.
Mein Glaube ist durch meine Herkunft geprägt, durch die Zeit, in der ich groß wurde, wie seinerzeit eben Familie, Kirche, Schule und Gesellschaft strukturiert waren und organisiert wurden. Ich hatte das Glück (oder, in der Sprache des Glaubens, mir wurde die selige Fügung zuteil), eine Mutter zu haben, die zwar traditionell im Ausdruck, aber liberal im Herzen war. Sie ermutigte mich, meinen eigenen Weg zu suchen und zu gehen. Auch in Sachen Religion. Mit 16 mochte ich den Satz im Glaubensbekenntnis, „geboren von der Jungfrau Maria“, nicht mitsprechen, er schien mir im wahrsten Sinne unglaublich zu sein. (Dank eines lyrischen Verständnisses des Credos habe ich heute keine Probleme mehr damit.) Und wenn früher beim Beichten der Herr Pastor fragte, ob es da noch Dinge gebe, die ich vor Scham nicht wagen würde auszusprechen (offensichtlich spielte er auf sexuelle Themen an, die ich in der Tat nie erwähnte, obwohl sie mich bewegten, weil damals ja alles verboten war), dann schüttelte ich sachte den Kopf. Diese innere Freiheit besaß ich bereits, manches ging nur Gott und mich direkt an.
Der Glaube schenkte mir Kraft und Selbstvertrauen. Doch ich benutzte Gott auch für meine Bedürfnisse nach Geborgenheit und Zugehörigkeit. Das musste früher oder später zu Spannungen führen. Mit der Kirche, die mich ihre Sicht auf Gott gelehrt hatte. Aber auch mit Gott selbst, weil ich zunächst meine kindliche Haltung als rundum versorgter Nesthocker nicht aufgeben wollte. Im Prozess des Erwachsenwerdens zeigte sich: Der „liebe“ Gott hat ausgedient. Der überkommene Glaube war überfordert, mir angemessene Antworten auf meine Fragen zu geben. Oder er gab Antworten auf Fragen, die ich nicht stellte.
Es scheint nahezuliegen, dass ich deswegen den Weg der vergleichenden Religionswissenschaft und Theologie einschlug. Ich wollte mehr wissen. Wissen eröffnet Horizonte. Es brauchte eine Zeit, bis ich wusste: Wissen allein bringt mich nicht zu Gott. Ich suchte Gott. Doch wo soll man suchen? In Büchern? Im Gottesdienst? Im Gespräch mit Glaubenden? In der Stille? In der Natur? In der Musik und der Kunst? In der leidenden Kreatur? Suchen kann man dort, vielleicht sogar finden. Heute ist mir klar: Wer sucht, verliert. Es geht weniger ums Finden als vielmehr ums Gefunden-Werden. Nicht ich habe Gott gefunden, sondern Gott mich. Auf meiner Glaubenswanderung bin ich oft in die entgegengesetzte Richtung gelaufen. Oder ganz vom Weg abgekommen. Ich dehnte Gelegenheiten zur Rast über Gebühr aus und trat auf der Stelle. Aus Versehen. Weil ich verpeilt bin. Weil ich vor Gott fortlief wie Jona. Ich kam nicht voran, weil mir das Ziel so unendlich weit entfernt erschien. Weil es mir am Vertrauen mangelte, das Abram mutig losziehen ließ. Und ich kam nicht recht vom Fleck, weil mein Glaubensrucksack zu schwer wog. Zu vieles, was wichtig und richtig und unaufgebbar sein wollte. Das musste sich ändern.
Denn nach wie vor lodert in mir die Sehnsucht nach Gott. Inmitten meiner seltsamen Diesseitigkeit hungere ich nach Transzendenz. Ich wünsche, alles, was mich hier bindet, zu überwinden. Ich dürste nach dem Himmel – gerade weil ich manchmal gewahr werde, ich bewege mich bereits darin. Diese Empfindung habe ich in einem kleinen Text für ein Kinderlied des Liedermachers Robert Haas versucht in Worte zu fassen:
Wie der Fisch im Wasser schwimmt, leben wir in dir .
Wie die Wolke oben schwebt, hängen wir an dir .
Sehen können wir dich nicht, dennoch wissen wir:
Du bist überall, du bist hier .
Hätte ich mehr Mystik gewagt, hieße es am Schluss nicht nur „du bist hier“, sondern „du bist in mir“. Gott in mir – das klingt so anders als die religiösen Sätze, die ich als Kind und Jugendlicher zu Hause, in der Kirche oder in der Schule gehört habe. Es klingt auch anders als die Inhalte meines theologischen Studiums. Anders als die Predigten, die ich in den Gottesdiensten hörte und höre, wenn ich sie als Teilnehmer besuche. Anders als die Predigten, die ich selbst halte.
Als Pfarrer versuche ich die große Tradition des Christentums mit meiner persönlichen Gotteserfahrung und der konkreten Situation, in die ich hineinspreche, übereinzubringen; ich bemühe mich, das in verständliche Worte und Zeichen zu übersetzen, um so Glauben für andere fruchtbar zu machen oder, wie es in der evangelischen Kirche heißt, das „Evangelium zu kommunizieren“. Diese Herausforderung überfordert mich aus Prinzip. Karl Barth brachte das schon vor 100 Jahren auf den Punkt: „Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.“
Viel radikaler hat das fast 600 Jahre zuvor der Dominikanerpater Johannes Tauler formuliert: „Denn Gott ist nichts von alledem, was du von ihm aussagen kannst. Er ist jenseits aller menschlichen Vorstellung von Form, Wesen oder Gut.“
Damit verbieten sich per definitionem alle Aussagesätze über Gott. Schweigendes Gegenwärtigsein wäre angemessen. Aber wir wollen eben auch singen und beten und die Bibel lesen und Predigten hören und über Gott nachdenken und uns austauschen. Das ist auch nicht unnütz, schon gar nicht verboten, doch wir müssen uns klarmachen: Wir befinden uns im Zustand des Herantastens. Wir ahnen, aber wissen nicht. Wir gehen über dünnes Eis.
Für diese Wanderung möchte ich mich besser zurüsten als für meine Santiago-Pilgerreise. Ich kann jetzt die Zeichen besser deuten, ich fürchte keine Umwege mehr, meine Schuhe sind eingelaufen, aber der Rucksack ist noch immer zu schwer. Aus Pietät und Furcht habe ich manches über lange Strecken mit mir herumgeschleppt. Davon will ich mich nun trennen. Die etwas großspurige Formulierung für dieses Ansinnen ist der Titel dieses Buches: „Requiem für meinen Glauben. Was ich getrost begraben darf und dadurch an Leben gewinne.“
Requiem ist natürlich ein überdimensioniertes Wort, es meint ja die Messe für Tote; doch die etwas pathetische Formulierung verdeutlicht den Ernst der Sache. Feierlich muss es gar nicht zugehen, aber mit Abschied hat es tatsächlich zu tun. Ich mag Beerdigungen, habe selbst an die anderthalbtausend als Trauerredner oder Geistlicher geleitet. Sie haben etwas schwer Erträgliches, aber auch beruhigend Endgültiges an sich. Da ist ein Leben zum Abschluss gekommen, das dennoch oft genug weiterwirkt. Wir bleiben ja von den Verstorbenen geprägt, so oder so, und auf unbeschreibliche Art bleiben wir auch mit ihnen verbunden. Aber tot sind sie eben doch!
Das Requiem für meinen Glauben bestattet nicht mein Vertrauen auf Gott, sondern es begräbt ein paar Sätze, die mir den Glauben erschweren. Auch diese Sätze wirken noch weiter. Um einige trauere ich sogar, muss aber anerkennen: Es ist vorbei. Es gibt Beerdigungen, von denen man erleichtert heimgeht. Andere lassen einen mit Bitterkeit zurück.
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