Sobald Bilal seine Familie sah, umarmte und küsste er sie und schien alles vergessen zu haben, was ich über sie erzählt hatte. Er verhielt sich weiterhin, als wäre nichts geschehen. Tief in meinem Herzen wusste ich, dass es nichts ändern würde, wenn ich es ihm erzählt hätte.
Markus brachte mich in seinem Wohnmobil zu meiner Familie. Als er die Natur und die Ruhe meines Landes sah, das ihm sehr gefiel, entschied er sich, einige Tage zu bleiben. Als er wieder fahren wollte, funktionierte der Motor des Wohnmobils nicht mehr, so musste der arme Markus einige Wochen dort verbringen, bis ein Ersatzteil aus der Schweiz und eine Fachkraft ankamen und es einbauten.
Dieses Mal machte ich Bilal deutlich, dass ich mehr Tage mit meiner Familie verbringen wollte, allerdings ohne dass mir seine Mutter und seine Schwestern hinterherschlichen. Auch er begleitete uns, schlief aber bei Markus im Wohnmobil mitten in der Landschaft. Dies demütigte mich und machte mich traurig. Ich hätte ihn gern bei meiner Familie gehabt, aber ich wusste auch, dass seine Mutter nicht zuließ, dass ihr Sohn bei meiner Familie blieb. Im Großen und Ganzen war ich sehr glücklich, Zeit mit meiner Familie zu verbringen und ihr endlich über mein Leben in der Schweiz erzählen zu können. Am Abend nach dem Essen saßen wir zusammen auf den Teppichen in einem Zimmer, während das schwache Licht einer Kerze, die auf dem kleinen runden Tisch in der Mitte stand, das Zimmer erhellte. Alle sahen mich voller Interesse an, während ich von meinem Leben in der Schweiz erzählte: vom Wetter, vom üppigen Gras und den reichen Ernten, und von dem majestätischen Fluss, der die Stadt durchzog, von den Leuten und ihren Sitten und von ihrer Art sich zu kleiden. Ich erzählte auch von Dingen, die meine Familie noch nie gesehen und von denen sie noch nie gehört hatte. Wie zum Beispiel von den Rolltreppen in den Geschäften, der Waschmaschine, der Spülmaschine, vom Staubsauger und anderen Dingen. »Was? Maschinen, die Kleidung und sogar Geschirr waschen?«, sagte Rabiha, und Fadma staunte mit offenem Mund und großen Augen. »Und was machen die Frauen den ganzen Tag, wenn diese Maschinen die Hausarbeit erledigen?«
Ich erklärte, dass der Rhythmus des Lebens in Europa viel schneller und ganz anders als der unseres Dorfes war. Dass die Mehrheit der Frauen zur Arbeit ging, dass die Leute mehr materielle Dinge besaßen und daher auch mehr Bedürfnisse hatten. Die Leute verwendeten mehr Teller und Gläser und Bestecke beim Essen. Nicht wie wir auf dem Land, die mit der Hand von nur einem Teller aßen und alle Wasser aus derselben Tasse tranken, die aus Aluminium oder Terrakotta gemacht war. Außerdem berichtete ich, dass die Menschen in Europa mehr Kleider besaßen, täglich duschten und sich oft umzogen und sie daher Kleidung und Geschirr oft waschen mussten. Daher mussten sie Maschinen erfinden, die ihnen die Arbeit erleichterten. Des Weiteren mussten ihre Häuser geputzt werden, bis sie glänzten. Darum sind die Leute dort ständig unterwegs und haben weniger Zeit als wir auf dem Land.
Sie hörten mir voller Interesse und Neugier zu. An ihrem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass sie versuchten, sich alles vor ihrem geistigen Auge vorzustellen, um es besser zu verstehen. Auch mein Stiefvater bombardierte mich mit Fragen zur Politik und zur Landwirtschaft. Er fragte mich, ob es in diesem Jahr in der Schweiz geregnet habe und ob die Leute bereits ihr Land gepflügt hätten, ob die Ernte im vergangenen Jahr gut gewesen sei und so weiter. Voller Erstaunen hörte er, dass es in der Schweiz das ganze Jahr über ausreichend Regen gab, sogar im Hochsommer. Dass der Sommer nicht so warm war wie der in Marokko. Dass das Getreide, vor allem der Mais, so hoch wuchs, wie ich groß war oder gar höher. Dass einige Früchte, wie Äpfel oder Birnen, reif von den Bäumen fielen und dass nicht einmal die Kühe Lust hatten, diese zu essen, da sie vom Gras im Überfluss satt waren. Ich erzählte, dass das ganze Land wie ein grüner Teppich war, von Frühlingsanfang bis zum Einbruch des Winters, dass das Land im Winter vollständig von Schnee bedeckt war und so weiter. Die ganze Familie war verblüfft, von diesem Land erzählt zu bekommen, dass für sie nach einem Paradies auf Erden klang.
Zum ersten Mal hätte ich auch die Möglichkeit gehabt, die schrecklichen Dinge zu erzählen, die ich bei meinen Schwiegereltern während des Jahres, in dem ich bei ihnen leben musste, erlitten hatte, ohne die Vergewaltigung natürlich. Alles, was die Torturen betraf, die ich bei meinen ehemaligen Herrschaften in der Vergangenheit erlebt hatte, wusste ebenfalls keiner in meiner Familie. Es war zu schmerzhaft für mich, mit ihnen darüber zu reden, daher erzählte ich weder von dem einen noch von dem anderen. Es blieb mein Geheimnis, das ich viele Jahre mit mir herumtrug, bis ich endlich teilweise darüber sprechen konnte, doch niemals ganz. Nur dank des Schreibens kann diese Geschichte mein Herz verlassen, doch auch nur zum Teil.
Meiner Familie brachte ich ein Radio mit, sodass sie zumindest die Nachrichten über Marokko hören konnten. Ich kaufte ihnen Kassetten mit Konzertaufzeichnungen berberischer Musik. Auch über die gebrauchte Kleidung, die ich aus der Schweiz mitbrachte, waren sie sehr glücklich. Ich besuchte die Leute im Dorf, die mich abwechselnd einluden. Als Geschenk gab ich ihnen Schokolade und ebenfalls gebrauchte Kleider, sie waren sehr dankbar dafür. Jeder ermunterte mich und sagte: »Iss, Mädchen iss. Du bist viel zu dünn, iss!« Doch nach ein paar Happen bekam ich nichts mehr hinunter. Die Leute dachten sogar, dass mein Mann das Essen vor mir wegsperrte. Ich musste ihnen erklären, dass wir Essen im Überfluss hatten, ich jedoch keinen Appetit verspürte. Tatsächlich ist es bei uns so, dass eine dünne Person nicht dem Schönheitsideal entspricht. Insbesondere die Frauen müssen gut genährt sein, mit breiten Hüften, heller Haut und glattem Haar. Ich entsprach diesem Schönheitsideal überhaupt nicht und ich schämte mich sehr für meinen körperlichen Zustand. Als wir gerade im Urlaub angekommen waren, wollte meine Schwiegermutter eines Morgens, dass ich sie zum Einkaufen auf den Markt begleitete. Da es ein wunderschöner, sonniger Tag war, zog ich mir ein Sommerkleid an, das bis unter die Knie reichte und kurze Ärmeln hatte. Als sie mich so sah, befahl sie mir, meinen Wintermantel anzuziehen, den ich während der Reise getragen hatte, da es in der Schweiz tiefster Winter war. Sie sagte, ich dürfe nicht einmal einen Gürtel anlegen, damit man nicht sähe, wie dünn ich war. Sie sagte, dass sie sich schämte, mit einer Schwiegertochter in die Nachbarschaft zu gehen, die dünn wie die Wirbelgräte einer Sardine war. Es ist eine sehr beleidigende Redensart, da dünn zu sein, in unserer Kultur als Affront gegen die Schönheit gilt. So musste ich für mehrere Stunden in meinem Wintermantel schwitzen, der im Inneren mit Wolle gefüttert war, um meine Schwiegermutter nicht zu beschämen. Als ich zum ersten Mal in die Schweiz kam, war ich sehr überrascht zu hören, dass hier eine schlanke Figur und leicht gebräunte Haut als schön galt. Ich verstand die Welt nicht mehr und wusste nicht, welches der beiden Ideale das richtige für mich sein sollte: das marokkanische oder das europäische. Hier in Europa machten mir die Leute für meine Figur Komplimente, etwas, was mir nie in den Kopf wollte, da ich, wenn ich nach Marokko ging, das Gegenteil zu erwarten hatte, was mir sehr peinlich war. Dort galt: Wer mager war, der war nicht attraktiv oder sogar hässlich.
Obwohl ich bei meiner Familie war, hatte ich Angst vor den Gemeinheiten meiner Schwägerinnen und meiner Schwiegermutter. Ich konnte weiterhin nicht schlafen, wegen der Albträume, die mich aus dem Schlaf rissen. Ich hatte Angst, dass Bilal etwas von dem, was ihm erzählt hatte, verraten würde.
Trotzdem zwang ich mich, mein Land, meine Leute, die wunderbare Sonne und den blauen Himmel zu genießen. Ich besuchte Bilal und Markus, die im Wohnmobil wohnten und im Freien kochten. Meine beiden Onkel mütterlicherseits, die nicht weit davon entfernt wohnten, wo das Wohnmobil geparkt war, brachte Markus und Bilal täglich frisch gebackenes Brot, Pfefferminztee, Butter und Honig vorbei. Gelegentlich brachten sie auch Tajin mit Fleisch und Gemüse. Auch fremde Leute wurden vom Wohnmobil angezogen. Sie brachten Essen vorbei und nutzten die Gelegenheit, sich das Innere des Fahrzeugs anzusehen.
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