Gott sei Dank waren die 30 Tage des Urlaubs in der Hölle endlich vorüber. Wir flogen vom Flughafen in Marrakesch ab. Jedes Mal, wenn ich in Marrakesch war, stiegen in mir die Erinnerungen an meine Zeit als Sklavin hoch, von denen ich noch niemandem etwas erzählt hatte. Selbst Bilal wusste nicht, was ich während meiner Versklavung in der größten Stadt Marokkos erlebt hatte. Meine Schwiegereltern begleiteten uns zum Flughafen, um das letzte Geld, das Bilal noch bei sich hatte, an sich zu nehmen. Bevor wir uns verabschiedeten, zog Bilal seine Brieftasche heraus und gab ihnen alles, bis auf den letzten Cent. Endlich wieder zu Hause in der Schweiz! Das kalte und neblige Land, in dem zu leben ich mir nicht im Geringsten hatte vorstellen können. »Ich? Niemals«, sagte ich zu Onkel Lahcen, als Bilal ihn vor zwei Jahren geschickte hatte, um um meine Hand anzuhalten. Jetzt war dieses Land zu meiner Insel der Zuflucht geworden, mein Rückzugsort von allen Erinnerungen an meine Vergangenheit und den großen Gefahren, die ich bei meiner Schwiegermutter zu bewältigen hatte. Ich liebe Marokko und es wird immer mein Heimatland bleiben, aber ich hatte verstanden, dass ich dort nicht leben konnte, aufgrund der schmerzhaften Erinnerungen an die Vergangenheit.
Nach unserer Rückkehr aus Marokko brachte Bilal schweren Herzens das Geld auf die Bank zurück. Ich wollte die Höhe seiner Schulden wissen, die er auf der Bank hatte, aber er weigerte sich, es mir zu sagen. Als Pina einmal zu mir kam, zog ich eine Kiste voller Unterlagen von Bilal hervor. Mit größter Geduld studierte sie alle Unterlagen, bis wir fanden, wonach ich gesucht hatte. Ich war schockiert, als ich entdeckte, dass Bilal 55.000 Schweizer Franken an Schulden hatte. Mit den im Laufe der Jahre angesammelten Zinsen, mussten wir der Bank bereits mehr als 70.000 Franken zurückzahlen. Es waren die Beträge, für die Bilal das Grundstück gekauft und das Haus gebaut hatte, in dem nun seine Eltern, seine Brüder und Schwestern lebten. Außerdem hatte er seinem Vater Geld geschickt, um einige Hektar Land zu erwerben, das der Vater jedoch auf seinen Namen und nicht auf den Bilals hatte eintragen lassen, während Bilal in gutem Glauben davon ausging, dass sein Vater ihn hatte eintragen lassen.
Bilal würde die Wahrheit erst später entdecken. Ich hatte diese Wahrheit bereits zwei Jahre zuvor im Hause meiner Schwiegereltern erfahren, doch meine Schwiegermutter drohte mir ernsthaft, falls ich es Bilal erzählen würde.
Ich legte meinen Kopf verzweifelt in meine Hände, während mich Pina fassungslos anstarrte. Ich fragte mich, wie Bilal glauben konnte, diesen hohen Betrag und die Zinsen jemals zurückzahlen zu können, wenn er doch gerade einmal 2200 Franken im Monat verdiente? Wie würden wir unser Leben finanzieren können, wenn wir anfingen, neben dem monatlichen Unterhalt für Miriam auch noch an die Bank zu bezahlen? Wie könnte man diese Katastrophe seiner gierigen Familie klarmachen, die immer noch mehr Geld von uns wollte? Ich dachte, Bilal würde sich schämen zuzugeben, dass das Geld, das er mit nach Marokko brachte, nicht allein von ihm verdient, sondern hauptsächlich geliehen war.
Mir wurde klar, dass ich mir eine andere Arbeit suchen musste, um ihm dabei zu helfen, die Schulden abzubezahlen. Eines Tages fragte ich Bilal: »Wie gedenkst du, diesen Schuldenberg, den du angesammelt hast, zurückzuzahlen?« »Woher weißt du, dass ich Berge von Schulden habe?« Ich musste gestehen, dass ich seine Unterlagen durchsucht hatte. »Du brauchst dich nicht in meine Angelegenheiten zu mischen, Aicha, ich habe schon alles geregelt.« »Was hast du geregelt? Oder denkst du, die Banken sind so dumm und geben dir endlose Kredite, die du nicht zurückzahlen musst?« Er antwortete: »Wenn die Banken mir nichts mehr geben oder ich nicht in der Lage bin, alles zu bezahlen, dann organisiere ich meine Zukunft in Marokko und bleibe für immer dort.« Ich sah ihn voller Enttäuschung an. »Was? Du hast vor zu flüchten, ohne deine Schulden zu bezahlen? Nehmen wir einmal an, es wäre so, was wird dann aus deiner Tochter?« »Wenn die erwachsen ist, kann sie zu mir nach Marokko kommen.« »Und wenn sie nichts mehr von dir wissen will, weil du sie im Stich gelassen hast?« »Naja, es ist ihre Entscheidung, ob sie zu mir kommen will oder nicht.« »Es tut mir leid, Bilal, aber ich verstehe dich nicht. Man kann doch nicht sein Kind in einem fremden Land zurücklassen, nur um sich dort unten zu bereichern. Und vor allem, für was, um Himmels willen! Um es Leuten recht zu machen, die nichts von Dankbarkeit verstehen? Damit Miriam dann die Konsequenzen tragen muss, indem sie ihren Vater verliert?« »Ich habe es dir schon einmal gesagt und ich wiederhole es gern, wir werden hier bald weggehen. Im Grunde habe ich mit diesem Geld armen Leuten und meiner Familie geholfen, die es dringend gebraucht haben. Oder siehst du das anders?« Ich war aufgebracht und stimmte ihm keineswegs zu, gleichzeitig tat es mir leid um Bilal, dem ich vor meiner Reise in die Schweiz das Versprechen abgenommen hatte, dass wir nach spätestens zwei Jahren für immer nach Marokko zurückziehen würden. Damals wollte ich überhaupt nicht in die Schweiz kommen, aus Angst vor der Kälte und dem Nebel und davor, mich nicht integrieren zu können. Doch jetzt hatte ich meine Meinung geändert. Nur in der Schweiz fühlte ich mir vor seiner Familie sicher.
Nach der Rückkehr aus Marokko änderte sich mein glückliches Leben in der Schweiz. Ich war nicht mehr so entspannt und unbeschwert wie zuvor. Die Schulden, die ich vor kurzem entdeckt hatte, belasteten mich und ich beschloss, sie gemeinsam mit Bilal so schnell wie möglich abzubezahlen. Ich hasste diese Schulden und konnte nicht mehr ruhig schlafen, solange sie nicht beglichen waren. Ich musste unbedingt schnell eine Arbeit finden, bei der ich mehr verdienen würde. Auch die Drohungen meiner Schwiegermutter verfolgten mich Tag und Nacht: »Wenn du auch nur ein Wort meinem Sohn gegenüber verlierst, über das, was du hier bei uns erlebt oder gehört hast, dann bringe ich dich um. Und denk nicht einmal dran, ihn zu überzeugen, uns kein Geld mehr zu schicken, versuche es nicht einmal. Der Tag an dem ich davon erfahre, wird dein Ende sein. Hast du das verstanden?« Die Angst und die Drohungen lähmten mich und machten es mir unmöglich, die finanzielle Belastung von uns zu nehmen, die sie uns auferlegten. Ich konnte Bilal kein Wort davon sagen, der wiederum weiterhin große Geldbeträge schickte. Er war sich dem Ernst der Lage überhaupt nicht bewusst, oder weigerte sich, die Wahrheit zu sehen. All diese Sorgen beeinträchtigen sowohl meine körperliche als auch meine geistige Gesundheit. Fieber und Halsschmerzen kamen wieder häufiger vor, obwohl ich lange nicht mehr daran erkrankt gewesen war. Eines Tages brachte mich Pina zu ihrem Arzt, einem älteren Herrn, der seinen Beruf in Teilzeit ausübte. Er hatte eine Lampe an seiner Stirn und trug eine Brille mit doppelten Gläsern, während er meinen Hals untersuchte. Er sagte, ich müsse meine Mandeln operieren lassen. Ich wurde von der Angst übermannt und fragte ihn auf Italienisch und mittels Gesten: »Wie soll das gehen, das Operieren, Doktor? Machen sie mir einen Schnitt im Hals und ziehen sie heraus? Tut das weh?« Der Arzt setzte seine Brille ab und brach in Gelächter aus, offensichtlich bemerkte er, dass ich ungebildet war. »Aber Frau Laoula, Sie müssen keine Angst haben, Sie werden überhaupt nichts spüren, das garantiere ich Ihnen. Die Operation wird über den Mund durchgeführt. Haben Sie das verstanden? Wir vereinbaren einen Termin im Krankenhaus und in etwa einem Monat werden Sie operiert.« Während der Wartezeit auf diese Operation ist mir etwas sehr Seltsames widerfahren. Eines Samstagmorgens erwachte ich mit einem Gefühl der Taubheit im ganzen Körper, aber vor allem konnte ich meine rechte Körperhälfte nicht mehr kontrollieren. Ich hatte Schwindelgefühl und Kopfschmerzen. Auf dem rechten Auge sah ich nur unscharf und ich konnte es nicht mehr schließen. Mein rechtes Bein gab einfach nach. Ich konnte mit der rechten Hand nicht einmal mehr ein Glas heben, sie war wie leblos. Ich wollte essen, doch meine Lippen konnten die Nahrung nicht halten und sie fiel mir aus dem Mund. Ich verstand nicht, was los war, aber ich machte mir keine Gedanken darüber. Ich war immer der Ansicht, dass die Krankheiten, die man bekommt, auf dieselbe Weise auch wieder verschwinden. Noch bis heute denke ich so.
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