Bis die abscheulich geschmacklose Kuckucksuhr, auf die sein Vater aus irgendeinem unverständlichen Grund bestand, direkt hinter Ethans Stuhl die volle Stunde einläutete. Das schrille Geräusch klingelte noch in seinen Ohren, als er bereits spürte, wie Estelles Kopf hochzuckte.
»Es ist schon so spät?«, stieß sie aus und fluchte. Dann richtete sie sich endgültig auf, wich ihm aus, als er sie packen wollte, und strich ein letztes Mal mit den Fingernägeln über seinen Schritt. »Wir holen das nach. Versprochen. Aber ich bin verabredet und darf nicht zu spät kommen.«
Obwohl sie ein wenig atemlos klang, hörten sich ihre Worte nicht danach an, als würde sie es sonderlich bereuen, ihn so im Regen stehen zu lassen. Ethan keuchte, noch benommen vor Erregung, doch als sie sich dieses Mal zu ihm herunterbeugte, um sich zu verabschieden, schnellte seine Hand nach vorn und vergrub sich in ihren Haaren.
»Oh, ich werde darauf bestehen«, flüsterte er. »Glaub nicht, dass du mich einfach so hier sitzen lassen kannst.«
»Heute habe ich leider keine andere Wahl. Aber komm morgen im Cerebrella vorbei, vielleicht fällt mir dann etwas ein, um es wiedergutzumachen.«
Frustriert ließ er sie gehen und er brauchte einen langen Moment, bevor er sich weit genug gefasst hatte, dass er sich wieder anziehen konnte, die Krawatte zurechtrückte und das ›Franklin’s‹ ebenfalls verließ.
Vor dem Restaurant stieß er beinahe gegen eine Frau, die mit derart unbeteiligtem Gesichtsausdruck die Karte studierte, dass es auffälliger nicht hätte sein können.
»Hey«, platzte sie heraus, als er so knapp und abrupt vor ihr stehen blieb, dass ihre Gesichter sich fast berührten. Erst als sie zu ihm herumwirbelte, erkannte er die zornig blitzenden Augen, deren Blau ihn sofort wieder fesselte.
»Du!«, grummelte er und schob sie von sich, um Abstand zu gewinnen. Ihr Duft nebelte ihn ein. Er war süß und mit einem Hauch von Tod behaftet, der ihn schwindeln ließ. Reichte es nicht, dass er dank Estelle immer noch mit einem Halbsteifen herumlief? »Was zur Hölle treibst du dich schon wieder hier herum? Hab ich dir nicht erklärt, dass kleine Mädchen wie du hier nichts verloren haben?«
Bevor sie es schaffen konnte, einen ihrer kecken und treffsicheren Sprüche hervorzuschleudern, war er bereits an ihr vorbeigeeilt.
Bei dem Techtelmechtel mit Estelle hatte er vergessen, dass auch er Arbeit vor sich hatte, die keinen weiteren Aufschub duldete.
8
Unser heutiges Tagesmenü!
Vorspeise: Frittierte Calamari an Feldsalat mit Balsamicodressing
Hauptspeise: Hirnscheibchen vom Kalb à la ›Franklin’s‹
Nachspeise: Denkersmoothie
Nur 179 Dollar pro Person für das komplette Menü ~ weil Liebe durch den Magen geht.
»Bitte was?«, murmelte Sarah, während sie die Speisekarte überflog. »Das liegt definitiv außerhalb meiner Preisklasse …«
Bis auf die exorbitante Summe konnte sie jedoch nichts Verdächtiges entdecken. Drinnen standen Kerzen auf den Tischen und verbreiteten gemeinsam mit dem gedimmten Licht eine gemütliche Atmosphäre. Die Möbel waren in Weiß gehalten und Bilder mit seltsamen Farbklecksen, die vermutlich Kunst darstellten, schmückten die teilweise goldverzierten Wände. Alles wirkte vollkommen normal, wenn man davon absah, dass hier lediglich die Reichen der Gesellschaft speisen konnten. Erneut las sie ein paar Gerichte auf der Karte und schüttelte den Kopf. Ein Blattgold-Brownie mit knackigen Nüssen für 47 Dollar? Da würde sie lieber auf das Blattgold verzichten und die Dinger selbst backen. Vorausgesetzt, sie könnte backen, was leider nicht der Fall war.
Ob sie hier wirklich ein Geheimnis finden würde? Schon immer hatte es die Elite gegeben, denen keine Seuche, keine Zombies, einfach nichts zu schaden schien. Das hier war ein weiterer Beweis für die Ungerechtigkeit der Welt.
Frustriert kramte sie ihr Handy heraus. Monatelang hatte sie dafür gespart. Es war der eine Luxus, den sie sich gönnen wollte, und obwohl sie ihren Freunden wieder und wieder versuchte, die Wichtigkeit eines solchen Geräts zu vermitteln, besaß sie als Einzige eines. Die Teile waren einfach zu teuer und das Mobilnetz beinahe instabiler als das Internet. Gerade an solchen Tagen freute sie sich über die kleine Freiheit, die ihr das Handy brachte. Wenn sie ein wenig bettelte, würde Daniel sie sicher mit dem Rad abholen und sie müsste nicht den ganzen Weg zu Fuß laufen.
Gerade tippte sie die Nummer vom Haustelefon ein, da flog die Tür auf und der Duft von Aftershave stieg ihr in die Nase.
Sie erkannte den Kerl sofort. Der grimmige Blick, der muskulöse, mahlende Kiefer.
»Hey«, stieß sie in Ermangelung passender Worte hervor. Nichts zu sagen und ihn bloß anzustarren kam trotzdem nicht infrage. Sonst hielt er sie am Ende für ein Duckmäuschen.
»Du!« Er knurrte das Wort beinahe. »Was zur Hölle treibst du dich schon wieder hier herum? Hab ich dir nicht schon einmal erklärt, dass kleine Mädchen wie du hier nichts verloren haben?«
Bevor sie ihm das Passende an den Kopf werfen konnte, war er bereits an ihr vorbeigerauscht. Sie sog scharf die Luft ein, als sie bemerkte, dass sie auf seinen Hintern gestarrt hatte. Hatte sie es echt so nötig? Schnell verdrängte sie den Gedanken. Zu gern hätte sie den Typen in ein Gespräch verwickelt und versucht, durch ihn etwas über das ›Franklin’s‹ herauszufinden. Was tat er hier? Servicekraft war er bei seinem Benehmen mit Sicherheit nicht.
»Dann mach ich es eben anders, Mr Bad Boy«, knurrte sie und gab ihrem Bauchgefühl nach. Bevor sie zu lange darüber nachdenken konnte, folgte sie ihrem Retter vom Tag zuvor.
Sarah lugte um die Ecke und sah ihn gerade noch rechts einbiegen. Lautlos eilte sie ihm hinterher.
Die nächste Straße, in die er lief, war eine kleine Sackgasse, umgeben von Fassaden ehemaliger Wohnhäuser. Gerade groß genug, um ein oder zwei Fahrzeuge zu parken.
Oder einen Lieferwagen.
Der Typ umrundete das große Gefährt und verschwand dahinter.
Sollte sie oder sollte sie nicht …?
Verdammte Neugier.
Sie ignorierte ihren beschleunigten Puls, huschte leise hinter den Lieferwagen und lauschte auf seine Schritte.
Stattdessen hörte sie eine Tür knallen, gefolgt von einem lauten Scheppern. Aufmerksam sah sie sich um. Niemand zu sehen, der sie hätte beobachten können. Da es erst zu dämmern begann, hatte sie ein wenig Zeit, bis die ersten Verseuchten sich blicken ließen. Also schlich sie vorsichtig weiter am Fahrzeug entlang und schaute am Fahrerhäuschen vorbei. In genau diesem Moment klirrte es und die Autotür flog auf. Hastig zog sie den Kopf ein. Ihr Herz hämmerte gegen die Brust und sie erstarrte. Wenn sie sich jetzt bewegte, egal in welche Richtung, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass jemand sie bemerkte. Andererseits … Falls es doch hart auf hart käme, würde sie eben kämpfen – oder rennen.
»Das ist das letzte Mal, dass ich dich frage! Warum lieferst du vergammelte Ware?«
Sie erkannte die Stimme desjenigen, der da drohte. Es war der Typ, der ihr geholfen hatte und dem sie aus unerfindlichen Gründen folgte.
»Ich weiß nicht, was damit passiert ist, ich … ich liefere doch nur, ich kann nichts dafür. Bitte!«
Ein weiteres Mal schepperte es und neben ihr spritzte Blut auf den Boden. Der Mann schrie auf. Erschrocken zuckte sie zusammen. Hier handelte es sich auf keinen Fall um einen harmlosen Streit zwischen zwei Männern. Denn bei einem solchen schlug niemand so hart zu.
Der Verletzte wimmerte. »Bitte«, wiederholte er, diesmal kläglicher. »Es tut mir leid! Ich weiß nichts darüber!«
Читать дальше