Meine beiden Mitfahrer seufzen. Die sind aber schweigsam heute! Ich will ihnen etwas bieten, sie sollen sich ja nicht langweilen. »Wir könnten das ABC-Tier-Spiel machen!« Da sagt Schneider: »Duhu?«
»Ja, Liebster?«
»Gibt’s dich auch ohne Ton?«
ERDie Strassen sind leer, langsam erwacht die Welt, und wir sind nur zu dritt unterwegs. Unsere ältere Tochter geht immer öfter eigene Wege. Daran muss ich mich gewöhnen. Ich sitze am Steuer, vor uns liegt ein Tag an der frischen Luft. Ich atme tief ein. Was Schreiber sofort zur Frage animiert, ob ich müde sei. Ich schüttle den Kopf, dafür hält sie mir nun ein Käsebrot hin. Ich blicke rüber, sie fragt: »Oder willst du lieber einen Kaugummi?« Ich blicke wieder auf die Strasse. »Nein.«
»Willst du Nachrichten hören?«
Nein, bitte keine Nachrichten über Leute, die sich irgendwo in die Luft sprengen, denke ich. Ich will den Tag einfach ganz ruhig angehen. Ohne Musik. Ohne Hörspiel. Und eigentlich auch ohne Schreibers Plapperbeschallung.
Wieso will frühmorgens jemand schon so viel reden? Sie findet gleich wieder einen Anlass und kommentiert den nächsten hässlichen Kreiselschmuck: »Mit dem Geld würde man besser etwas für Teenager machen.« Die nächste Baustelle: »Werden die hier niemals fertig?« Sie zwitschert ohne Punkt und Komma, und kurz bevor ich ein Ausrufezeichen setze für mehr Ruhe auf dieser Welt, kommt unerwartet Hilfe von der Hinterbank: »Mama, ich glaube, ich will doch noch schlafen. Kannst du bitte nichts mehr sagen?«
»Ist alles in Ordnung?«
Spassbremse
SIEEin wunderschöner Tag liegt vor uns, bestes Wetter und alle Zeit der Welt. Schneider hat unsere erste gemeinsame E-Bike-Tour geplant. Ziel ist eine hübsche Dorfbeiz, in der wir schon lange einmal essen wollten. Zuerst radeln wir auf Waldstrassen über die Hügel, plaudern, staunen, riechen die Natur. Wir bewegen uns fort, ohne uns zu verausgaben. Herrlich! Dann fährt Schneider immer öfter weit vor mir, jeder in seinem Tempo halt, auch jetzt auf der schmalen Teerstrasse. Über uns kreist ein Milan und pfeift, weit und breit kein Auto.
Ich freue mich, dass Schneider Spass hat an meinem Spontangeschenk, er, der kein grosser Velofan war. Das sieht man auch an seinem Fahrstil. Er eiert. Mit jedem Tritt reisst er den Lenker hin und her. Hat er Schwierigkeiten mit der Balance? Geübt ist er ja nicht sonderlich.
Ich sollte ihm Tipps geben, rufe nach vorne, ob alles in Ordnung sei? Keine Ahnung, ob er mich gehört hat, denn nun geht es bergab, und er tritt kräftig in die Pedale.
Ich habe keine Chance, ihm zu folgen. Mir wird es zu schnell, ich bremse ab und hoffe, dass wir uns spätestens beim Restaurant wieder treffen werden und ab dann miteinander weiterfahren.
Wenn ich allein fahren wollen würde, hätte ich mir das Geld für sein E-Bike nämlich sparen können!
ERWar nicht einfach, Picknickdecke, Wasser und Notfallapotheke in unsere Körbe zu stopfen. Schreiber will immer ausgerüstet sein, als wären wir viele Wochen, nicht wenige Stunden unterwegs.
Dabei bin ich von uns beiden der mit der Erfahrung. Habe als Jugendlicher die halbe Schweiz auf dem Velo erkundet, von Zurzach nach Thun, ins Appenzell, nach Lugano und Brig! Später nutzte ich das Velo nur noch als Nahverkehrsmittel, zuletzt gar nicht mehr, bin eher der Geher.
Das E-Bike ändert das aber gerade. Macht viel Spass! Vor mir auf der Strasse entdecke ich helle Teerflecken im Asphalt. Spannend! Schreiber schreit von weit hinten irgendwas wie: »Du eierst so, alles okay?«
Ich muss schmunzeln. Ich eiere nicht, ich fahre Slalom. Den Lenker schwenke ich gekonnt nach links, nach rechts, tack, tack, tack, bloss keinen Flecken berühren.
Dann erreiche ich den höchsten Punkt, die Abfahrt lockt, ich blicke auf den Tacho – das hatte ich noch nie an einem Velo –, trete in die Pedale und visiere einen neuen Geschwindigkeitsrekord an.
Als ich kurz danach beim Restaurant eintreffe, sehe ich Schreiber weit oben im Zeitlupentempo abwärtsrollen. Meine Spassbremse! Ich glaub’, ich sollte öfter allein auf Tour gehen.
»Mist, das wird teuer!«
Win-win!
ERUnser Auto steht vor dem Haus, und ich sehe mit Schrecken, dass auf der Beifahrerseite ein langer Kratzer prangt. Nicht schon wieder, denke ich, denn erst kürzlich habe ich eine kostspielige Schramme in den Lack geritzt. Der neue Kratzer muss wohl vor ein paar Tagen passiert sein, da bin ich zu nah an unsere Kletterhortensie geraten. Ich hörte, wie die Äste am Auto entlangschabten. Gedacht habe ich mir dabei nichts.
Nun habe ich die Bescherung. Weiss jetzt schon, dass Schreiber sagen wird, ich würde zu wenig aufpassen und schlampig mit dem Auto umgehen. Sie nimmt jeden Katzer persönlich, weil es symbolisch gesehen ihr Auto ist. Sie wollte diesen VW-Bus. Mir sind Autos viel weniger wichtig, wichtig ist bloss, dass sie fahren.
Ich untersuche den neuen Kratzer.
Vielleicht – hoffentlich – ist er nur oberflächlich? Ich hole einen Lappen und poliere. Dann rubble ich. Wie ein Wilder. Nützt nichts, der Lack ist ab.
Hm. Ich werde besser mal noch ein bisschen abwarten, bis der perfekte Zeitpunkt eintritt, um Schreiber davon zu erzählen. Hoffe nur, dass sie die Schramme nicht vorher entdeckt. Wobei: Grad jetzt kurvt sie mit dem Velo auf den Vorplatz. Also. Rein in die Höhle der Löwin.
SIEIch kehre zurück vom Einkaufen, Schneider steht mit einem Lappen neben unserem Auto und putzt. Wie toll, dass er sich auch mal darum kümmert. Denn normalerweise bin ich diejenige, die das Auto in Schuss hält. Normalerweise …
Er grinst seltsam.
Ich denke: Nanu?
Er sagt: »Du, ich muss dir was sagen.«
Ich steige ab: »Ja? Was denn?«
Dann erzählt er mir von der Hortensie, von Ästen, voll in Eile und einem Kratzer. Bevor er sich auch noch entschuldigen will, unterbreche ich ihn, denn sonst wird das Ganze einfach zu peinlich.
Zu peinlich für mich.
Ich also: »Halt! Stopp! Das ist gar nicht dein Kratzer! Den habe ich gemacht. Als ich vor ein paar Tagen unterwegs war, habe ich beim Einparken eine Absperrung auf der Seite übersehen. Bin daran entlanggeschrammt. Ich wollte es dir ja sagen. Irgendwann halt. Tut mir echt leid.«
Er strahlt.
Ich sage: »Mist, das wird teuer.«
Er strahlt weiter und sagt: »Och, das macht doch nichts!«
Tolle Reaktion, finde ich.
Er: »Weisst du, ich bin so froh, dass das dir und nicht mir passiert ist.«
Super! So gesehen, ist ein Kratzer grossartig für die Beziehung: Schneider ist erleichtert, dass er nicht schuld ist, und ich bin erleichtert, dass er nicht sauer auf mich ist.
»Wo ist vorne?«
Parkassistentin
EREs ist früher Freitagmorgen, als wir auf den weiten Parkplatz des Baumarktes fahren. Es stehen kaum Autos herum, wir haben freie Wahl, und ich steuere entspannt über den Asphalt den hinteren Teil des Geländes an. Dort habe ich beim letzten Mal eine neue, wenig benutzte Ausfahrt entdeckt.
Читать дальше