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Form
Die Beachtung der Form sichert die Authentizität und die Zugänglichkeit des gesetzten Rechts. Dies ist bei den primären Rechtsquellen in der Regel unproblematisch, obwohl sich auch hier – beim sog. Redaktionsversehen – Fragen stellen können, welche textliche Fassung verbindlich ist.[285] Deutlich schwieriger ist es, das geltende Richterrecht zu bestimmen. Hier leisten Leitsätze eine wichtige Hilfestellung, die aber häufig interpretationsbedürftig sind und dann unter Rückgriff auf die Entscheidungsgründe konkretisiert werden müssen.[286]
2. Materielle Rechtmäßigkeitsanforderungen
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Vereinbarkeit mit Vorgaben des höherrangigen Rechts
Prüfstein der materiellen Rechtmäßigkeit sind die inhaltlichen Vorgaben der höherrangigen Normebenen (Vorrang der Verfassung, Vorrang des Gesetzes, Vorrang des Primärrechts).[287] Diese einzuhalten, wird umso eher zum Problem, je deutungsoffener die Normtexte des höherrangigen Rechts abgefasst sind. Damit steigt auch das Risiko, dass sie richterrechtlich in einer Weise konkretisiert werden, die bei der Normsetzung auf den untergeordneten Ebenen noch nicht berücksichtigt werden konnte. Besondere Schwierigkeiten sind hier mit dem Prinzipiencharakter der rechtlichen Grundordnungsebene verbunden. Konfligierende Prinzipien müssen durch Vorrangregeln im Wege praktischer Konkordanz zum Ausgleich gebracht werden.[288] Dies kann nur über eine Präjudizienbindung gelingen, die Pfadabhängigkeiten begründet.[289]
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Nichtigkeitsdogma und Vernichtbarkeit
Die Fehlerfolgenlehre von Rechtsnormen wird durch zwei Grundpositionen abgesteckt.[290] Nach dem Nichtigkeitsdogma ist die rechtswidrige Norm ipso iure unwirksam und vermag keinerlei Rechtswirkungen zu entfalten. Denkbar erscheint es aber auch, von der bloßen Vernichtbarkeit der rechtswidrigen Norm auszugehen. Die Norm bleibt solange wirksam, bis sie durch den Gesetzgeber selbst aufgehoben oder durch Richterspruch vernichtet wird. Diese Auffassung hat den Vorzug, den Widerspruch zwischen rechtlicher Geltung im Außenbereich und soziologischer Geltung sowie der Normgeltung im Binnenbereich zu vermeiden, mit dem sich das Nichtigkeitsdogma konfrontiert sieht. Bis zu dem Zeitpunkt einer autoritativen Normverwerfung (gesetzliche Aufhebung der Norm oder judikative Nichtigkeitserklärung) ist die Norm jedenfalls seitens der Verwaltung mangels Normverwerfungsbefugnis zu beachten. Ebenso handelt auch der Bürger, der von der Nichtigkeit ausgeht, auf eigenes Risiko. Haupteinwand gegen die Vernichtbarkeitsthese ist ihre Abhängigkeit vom Prozessrecht. Wenn der Prozessgesetzgeber über die Voraussetzungen der Normvernichtung disponieren kann, wird ihm auch in materiell-rechtlichen Fragen Rechtssetzungsmacht zugeschrieben.[291]
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Verfassungsrechtliche Vorgaben
Dem deutschen Recht liegt jedenfalls im Ausgangspunkt das Nichtigkeitsdogma zugrunde.[292] Verfassungsrechtlich ist dies nicht zwingend geboten.[293] Gefordert ist allein eine gewichtige Sanktion,[294] sodass es dem Gesetzgeber frei steht, das Nichtigkeitsdogma bei überwiegenden gegenläufigen Belangen zu durchbrechen. Von dieser Option ist insbesondere im Planungsrecht (Grundsatz der Planerhaltung, §§ 214 ff. BauGB),[295] aber auch für kommunalrechtliche Satzungen für Form- und Verfahrensfehler Gebrauch gemacht worden (z. B. § 4 Abs. 4 GemO Bad.-Württ.[296], § 7 Abs. 6 GemO NRW[297]).[298] Darüber hinaus ist mit der richterrechtlich entwickelten Unvereinbarkeitserklärung, die durch §§ 31 Abs. 2 S. 2, 79 Abs. 1 BVerfGG einfachgesetzlich bestätigt wurde, eine bedeutende Ausnahme anerkannt worden. Dies ist bei Gleichheitsverstößen geboten,[299] aber auch dann, wenn die Nichtigkeitsfolge dem verfassungsmäßigen Rechtszustand noch ferner steht als die bestehende Regelung.[300] Eine bloße Unvereinbarkeitserklärung wird auch bei untergesetzlichen Rechtsvorschriften als zulässig angesehen.[301]
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Vernichtbarkeitsdoktrin
Die Rechtsprechung des EuGH wählt einen anderen Ausgangspunkt, der in der Vernichtbarkeitsdoktrin gründet. Für Rechtsakte der Unionsorgane soll grundsätzlich die Vermutung der Gültigkeit[302] bzw. der „Rechtmäßigkeit“[303] sprechen. Abweichendes gilt für Rechtsakte, die mit einem Fehler behaftet sind, dessen Schwere so offensichtlich ist, dass er von der Unionsrechtsordnung nicht geduldet werden kann. Solche Rechtsakte entfalten keine auch nur vorläufige Rechtswirkung, sondern sind von Anfang an als rechtlich inexistent zu betrachten.[304] Aus Gründen der Rechtssicherheit soll dies aber allein „ganz außergewöhnlichen Fällen vorbehalten“ bleiben.[305] Die Nichtigkeitsklage ist folglich als Gestaltungsklage mit ex tunc Wirkung anzusehen.[306] Die Befugnis, einen Rechtsakt der Union für nichtig zu erklären, steht ausschließlich dem EuGH zu, der damit über ein Normverwerfungsmonopol verfügt.[307]
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Bindungswirkung von Normen
Die Antwort auf die Frage, inwieweit Normen in der Lage sind, Bindungswirkungen außerhalb ihres eigenen Rechtskreises zu erzeugen, lässt sich auf zwei Grundmuster zurückführen. Diese entstammen ursprünglich der Völkerrechtslehre,[308] lassen sich als Deutungsmuster aber auch auf das Verhältnis anderer Rechtskreise übertragen. Nach dem Monismus werden Völkerrecht und nationales Recht als Teile einer sich überschneidenden Gesamtrechtsordnung gedacht. Dabei kann entweder dem nationalen Recht oder dem Völkerrecht Vorrang zukommen.[309] Demgegenüber geht der auch vom BVerfG vertretene Dualismus von zwei voneinander getrennten Rechtskreisen aus.[310] Die Geltung einer Norm der anderen Rechtsordnung muss dann entweder generell oder im Einzelfall angeordnet werden. Die Öffnung für den anderen Rechtskreis kann auch von einschränkenden Bedingungen abhängig gemacht werden.
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Einheitsparadigma
Innerhalb der deutschen Rechtsordnung sind mit dem Bundesrecht, dem Landesrecht sowie der kommunalen und funktionalen Selbstverwaltung verschiedene Rechtskreise zu unterscheiden. Ihr Verhältnis zueinander basiert auf dem monistischen Ansatz. Gültige Rechtsnormen des deutschen Rechts sind allgemein und von jedermann zu beachten. Bundesbehörden sind an geltendes Landesrecht gebunden.[311] Dem Landesrecht kommt bundesweite Geltung zu.[312] Eine kommunale Satzung bindet nicht nur die Gemeindebürger, sondern auch Außenstehende. Entsprechendes gilt für die Normen der funktionalen Selbstverwaltung.[313] Monistisch argumentiert auch der EuGH zum Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht. Die Verträge sollen mit ihrem Inkrafttreten eine eigene Rechtsordnung geschaffen haben, die in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden ist und ihnen vorgeht.[314]
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Trennungsparadigma
Das Verhältnis zum ausländischen Recht ist durch das völkerrechtliche Territorialitätsprinzip bestimmt. Die Grenzen des eigenen Hoheitsgebiets markieren zugleich die Grenzen der Staatsgewalt.[315] Ausländisches Recht wirkt daher in die deutsche Rechtsordnung nur insoweit ein, als deutsches Recht es für anwendbar erklärt.[316] In der Frage nach dem Verhältnis von Völkerrecht zum nationalen Recht bekennt sich das BVerfG im Grundsatz zum Dualismus[317] ,[318] und differenziert zwischen den verschiedenen Rechtsquellen des Völkerrechts. Nach Art. 25 GG sind die allgemeinen Regeln des Völkerrechts ipso iure Bestandteil des Bundesrechts. Darüber hinaus bedarf es keines speziellen Transformationsaktes bzw. Vollzugsbefehls. Der Anwendungsbereich der Vorschrift beschränkt sich aber auf das Völkergewohnheitsrecht sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts.[319] Ausgenommen bleibt das praktisch besonders bedeutsame Völkervertragsrecht.[320] Dieses muss im Regelfall im Wege des Art. 59 Abs. 2 GG in die deutsche Rechtsordnung transformiert bzw. für anwendbar erklärt werden. Das Erfordernis eines formellen Bundesgesetzes dient der demokratischen Kontrolle. Die Rangstufe der transformierten bzw. für innerstaatlich anwendbar erklärten völkerrechtlichen Norm entspricht der eines einfachen Bundesgesetzes. Wichtige Konsequenz ist, dass ein sogenannter treaty override, bei dem sich der nationale Gesetzgeber innerstaatlich bewusst über eine wirksame völkerrechtliche Bindung hinwegsetzt, verfassungsrechtlich zulässig bleibt.[321] Ebenfalls auf einer dualistischen Konzeption beruht das Verhältnis des Binnen- zum Außenrecht.[322]
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