»Gut,« sagte der Oberst, der dies nicht bemerkt hatte; »aber das war ein außerordentlicher Fall und die mittlere Höhe des Wassers ... Aber was Teufel, haben Sie beide?« unterbrach er sich plötzlich.
»Nichts,« antwortete Sir Ralph; »als ich mich umwandte, trat ich Herrn von Ramière auf den Fuß; ich muß ihm sehr weh getan haben.«
Diese Antwort wurde in einem so ruhigen und natürlichen Tone gegeben, daß Raymon sich einredete, Sir Ralph glaube es selbst.
Einige Stunden später verließ Raymon Lagny, ohne Frau Delmare gesehen zu haben. Das war mehr, als er hoffte; er hatte gefürchtet, sie werde ihm gleichgültig und ruhig begegnen.
Er kam wieder, ohne jedoch glücklicher zu sein. Diesmal war der Oberst allein. Raymon tat alles, um sich in dessen Gunst zu befestigen. Er rühmte Napoleon, den er nicht liebte, beklagte die Gleichgültigkeit der Regierung, welche die berühmten Trümmer der großen Armee vernachlässige, und brachte von seinen politischen Glaubensartikeln nur diejenigen zur Sprache, welche Herrn Delmare schmeicheln konnten. Er nahm sogar einen ganz anderen Charakter an, kehrte den Lebemann, den leichten Kameraden, sogar den sorglosen Taugenichts hervor.
»Nun,« sagte der Oberst, als er ihn fortgehen sah, »der wird meine Frau nie erobern!«
Frau von Ramière war damals in Cercy; Raymon rühmte ihr Indianas Anmut und Geist und wußte ihr geschickt den Wunsch einzuflößen, der jungen Frau einen Besuch zu machen. Eine Woche später begleitete sie in der Tat ihren Sohn nach Lagny.
»Jetzt kann mich Indiana nicht mehr vermeiden,« triumphierte Raymon.
Allerdings hatte er recht. Als Indiana aus dem Wagen eine bejahrte Frau steigen sah, die sie nicht kannte, eilte sie ihr auf der Freitreppe des Schlosses entgegen. Sie nahm Frau von Ramière achtungsvoll und gütig auf; aber ihre Kälte gegen Raymon war so eisig, daß er sie nicht lange zu ertragen vermochte. Sein Stolz empörte sich, denn an Verachtung war er nicht gewöhnt. Da spielte er denn die Rolle eines Mannes, der gleichgültig gegen eine Laune ist, er bat um die Erlaubnis, Herrn Delmare im Park aufsuchen zu dürfen, und ließ die beiden Frauen allein.
Indiana konnte dem Reize nicht widerstehen, den ein überlegener Geist, verbunden mit einem edlen und großmütigen Herzen, auch über die geringfügigsten Beziehungen zu verbreiten weiß, und wurde warm und herzlich in Frau von Ramières Gegenwart. Nie hatte sie eine Mutter gekannt, Frau von Carvajal, ihre Tante, konnte deren Stelle nicht ersetzen; um so wohltuender empfand Indiana den sanften Zauber, den Raymons Mutter auf sie ausübte.
Bei der Abfahrt sah Raymon, wie Indiana die Hand seiner Mutter an ihre Lippen drückte. Die arme Indiana fühlte das Bedürfnis, sich an jemand anzuschließen. Alles, was ihr Hoffnung auf Teilnahme und Schutz in ihrem einsamen und unglücklichen Leben bot, wurde von ihr mit Entzücken erfaßt.
»Ich will mich in die Arme dieser trefflichen Frau werfen,« dachte sie, »und, wenn es nötig ist, ihr alles bekennen. Ich will sie beschwören, mich vor ihrem Sohne zu retten, und ihre Klugheit wird über ihn und über mich wachen.«
Das war natürlich Raymons Gedanke nicht.
»Die Güte und Anmut meiner teuren Mutter bewirken Wunder,« sagte er sich. »Was verdanke ich ihr nicht schon! Meine Erziehung, meine Erfolge im Leben. Es fehlt mir nur noch, daß ich ihr das Glück verdanke, die Liebe einer Frau, wie Indiana, zu gewinnen.«
Bald nachher erhielt Raymon eine Einladung, drei Tage in Bellerive zuzubringen, dem prächtigen Landsitze, welchen Sir Ralph Brown zwischen Cercy und Lagny besaß. Es sollte mit Hilfe der besten Schützen der Umgegend Jagd auf Wild gemacht werden, welches den Wald und die Gärten des Besitzers verwüstete. Raymon liebte weder Sir Ralph noch die Jagd, aber bei großen Gelegenheiten machte Frau Delmare im Hause ihres Vetters die Honneurs, und die Hoffnung, sie dort zu treffen, bestimmte Raymon, die Einladung anzunehmen.
Sir Ralph rechnete jedoch diesmal nicht auf seine Cousine; sie hatte sich mit dem schlechten Zustand ihrer Gesundheit entschuldigt. Aber der Oberst ließ das nicht gelten.
»Du willst wohl der ganzen Umgegend glauben machen, daß ich dich unter Schloß und Riegel halte?« warf er ihr vor. »Du läßt mich für einen eifersüchtigen Gatten gelten; das ist eine lächerliche Rolle, die ich nicht länger spielen mag. Ziemt es dir, deinem Vetter einen so geringen Dienst zu verweigern, da wir nur seiner Freundschaft unser Vermögen und das Gedeihen unserer Unternehmungen verdanken? Aber ich weiß wohl, der arme Teufel ist dir nicht sentimental genug, du siehst in ihm einen Egoisten, weil er die Romane nicht liebt und den Tod eines Hundes nicht beweint. Übrigens machst du es Herrn von Ramière nicht besser, wie hast du ihn empfangen? Frau von Carvajal stellt ihn dir vor und du bist entzückt von ihm, aber kaum schenkte ich ihm mein Wohlwollen, so findest du ihn unerträglich und stellst dich krank, wenn er zu uns kommt. Soll ich deinetwegen für einen Mann ohne Welt gelten? Das muß aufhören.«
Als Raymon bei Sir Ralph ankam, hatte die Jagd bereits begonnen. Delmare wurde erst zur Stunde des Mittagessens erwartet. Unterdessen entwarf Raymon seinen Plan, zu dessen Ausführung er drei Tage Zeit hatte.
Inhaltsverzeichnis
Seit zwei Stunden befand sich Raymon im Salon, als er in einem Nebenzimmer Indianas sanfte Stimme hörte. Bei diesem ersten Wiedersehen fand er sie so verändert, daß seine Leidenschaft dem Gefühle aufrichtiger Teilnahme wich. Kummer und Krankheit hatten auf ihrem Gesichte tiefe Spuren hinterlassen. Fast war sie kaum noch schön zu nennen und die Eroberung ihres Herzens versprach mehr Ruhm als Vergnügen ... Aber Raymon war es sich selbst schuldig, dieser Frau Glück und Leben wiederzugeben.
Als er sie so bleich und mutlos sah, zweifelte er, daß in einer so gebrechlichen Hülle ein starker, moralischer Widerstand wohnen könne.
»Indiana!« sagte er zu ihr mit einer geheimen Zuversicht, die unter einer Miene tiefer Trauer verborgen war, »so muß ich Sie wiederfinden? Ich wußte nicht, daß dieser so lang ersehnte Augenblick mir einen so entsetzlichen Schmerz bereiten würde!«
Frau Delmare war auf eine solche Sprache nicht gefaßt. Sie hatte erwartet, Raymon als zerknirschten, beschämten Sünder vor sich erscheinen zu sehen, aber statt sich anzuklagen, statt ihr von seiner Reue und seinem Schmerze zu sprechen, hatte er nur Kummer und Mitleid für sie! Sie fühlte sich daher sehr zu Boden gedrückt, weil sie dem Manne Bedauern einflößte, der ihr Erbarmen hätte anflehen sollen!
Eine Frau von Welt hätte sich in einer so schwierigen Lage zu helfen gewußt; aber Indiana besaß weder die Erfahrung noch die Verstellungsgabe, welche notwendig war, um sich ihren Vorteil zu bewahren. Jene Worte des Mitleids vergegenwärtigten ihr alle ausgestandenen Leiden und Tränen glänzten an ihren Augenwimpern.
»Ich bin in der Tat krank,« sagte sie, indem sie sich schwach und abgespannt auf den Lehnstuhl setzte, den Raymon ihr darbot; »ich fühle mich sehr leidend und habe das Recht, mein Herr, mich zu beklagen.«
Raymon hatte nicht gehofft, so schnell zum Ziele zu gelangen.
»Indiana,« erwiderte er, ihre Hand ergreifend, die sich kalt und trocken anfühlte, »sagen Sie nicht, daß ich der Urheber Ihrer Leiden bin; Sie würden mich wahnsinnig vor Schmerz und Freude machen.«
»Vor Freude?« wiederholte sie, indem sie ihre großen blauen Augen voll Staunen auf ihn heftete.
»Ich hätte sagen sollen, vor Hoffnung, denn wenn ich Ihre Leiden verschuldet habe, so kann ich Sie vielleicht auch davon befreien. Sprechen Sie ein Wort,« fügte er hinzu, indem er sich neben sie auf eins der Kissen des Diwans warf, welches herabgefallen war; »fordern Sie mein Blut, mein Leben! ...«
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