»Nicht wahr, wir wollen jetzt recht fleißig zusammen sein? Ihr müßt mich aber auch etwas lieb haben und mich du nennen.«
Dann wurden sie wieder entlassen. Zum Draußenarbeiten hatten sie heute die Lust verloren, und als Geerd am Nachmittag kam, fand er die beiden melancholisch neben einer angefangenen Hütte sitzen. Ellen war verzweifelt: nun sollte das Jammerleben wieder anfangen – Stunden – Schelte – Nachsitzen, und hinter all diesen Schrecknissen stand Mama und die Ecke im Wohnzimmer, wo sie stricken mußte. Geerd versuchte sie mit Bonbons zu trösten, und allmählich wurde der Schmerz etwas milder. Dann schlug er einen Trauergottesdienst vor, – alle drei rauften sich die Haare und schlugen sich an die Brust, während sie den Mohu umtanzten und seinen Fluch auf Cläre Huhn herabriefen. Sie sollte ihm zu Ehren geschlachtet und verbrannt werden, wenn er seinen treuen Dienern zu Hilfe kam. Danach lag jeder vor seiner Hütte, und sie pflogen Rat, was jetzt zu tun sei. Alle drei waren in kriegerischer Stimmung und verlangten danach, sich auszutoben. Detlev kroch vorsichtig den Abhang hinauf, um zu sehen, ob nicht etwa wieder die Dorfkinder zum Blumenpflücken in die Koppel eingebrochen wären. Und richtig, da war eine ganze Rotte, raufte Feldblumen und trat das Gras nieder. Nun erhoben sich auch die beiden andern, sie schlichen geduckt am Wall entlang und umzingelten den Feind. Bald war eine wütende Prügelei im Gang, die Bundesgenossen trugen trotz ihrer geringen Zahl den Sieg davon und machten ein paar Gefangene, die übrigen entflohen unter zornigen Drohreden. Nun hielten sie Gericht: den Mädchen banden sie mit Taschentüchern die Augen zu und stürzten sie vom Wall herab. Ein Junge, der sich heftig zur Wehr setzte, sollte mit in ihre Stadt geschleppt werden. Sie warfen ihn nieder, zogen ihn an Armen und Beinen über das Gras hin zu den Hütten, wo er dann noch ein paarmal hin- und hergeschwenkt und in einen großen Brennesselbusch geworfen wurde. Damit war ihr Blutdurst gestillt, und der Gerichtete durfte mit ziemlich zerrissenen Kleidern heimgehen, während das Geschwisterpaar mit seinem Freunde frohlockend den Mohu umtanzte.
Nach diesem stolzen Tage fing das Schulleben für Ellen und Detlev wieder an. Es war wenigstens ein Glück, daß die neue Lehrerin nicht im Hause wohnte und nur zu den Stunden kam. Die Kinder wußten bald, daß mit ihr nicht so leicht fertig zu werden war wie mit der früheren, die sie jetzt in der Erinnerung mit einem förmlichen Nimbus umgaben.
Die Mutter hatte eingehend mit ihr über Ellen gesprochen, und das Fräulein nahm sich vor, das unmögliche Kind mit gütiger Strenge zu zähmen. Dadurch hatte sie von vornherein verloren; Ellen wand sich geradezu vor diesen eindringlichen Blicken und feuchten, ermahnenden Händedrücken, die an ihre Seele heranwollten. – Draußen blühte der Sommer, der Rasen vor dem Fenster wuchs immer höher empor, so daß man gerade in das bunte Gewoge von Gras und Blumen hineinsah. Dahinter breiteten die Kastanienbäume ihre grünen Gewölbe mit den weißen Blütenkerzen bis auf den Boden nieder. – Ellen und Detlev saßen sich gelangweilt gegenüber, platzten manchmal zur Unzeit in Gelächter aus und widerstrebten aus tiefstem Herzen jedem Wort, das die schwarze, glattgescheitelte Lehrerin sagte. Kaum war die Stunde zu Ende, so rannten sie wie kopflos davon und mußten zehnmal zurückgerufen werden, um das Tintenfaß, ihre Bücher oder sonst etwas wegzuräumen. Dann stürzten sie zu den Hütten und warteten auf Geerd.
Jeder Tag brachte neue Gedanken, neue Pläne und Taten. Sie gruben Kanäle, legten Inseln drunten im Graben an und befuhren das schlammige, grüne Wasser in einem alten Backtrog oder auf Bretterflößen. Das war die stolze Flotte, die von fernen Gestaden unermeßliche Schätze brachte und mehr wie einmal strandete.
Jeden Monat wurden die Ämter und Würden neu verteilt, so waren sie abwechselnd Könige, Minister und hohe Kirchenfürsten in prunkvollen Gewändern aus farbigem Glanzkattun, mit Kronen und Bischofsmützen aus Goldpapier. Dann legten sie sich Namen und Wappen bei, und jeder erdachte sich eine verwickelte Sage über die Abstammung seines Geschlechtes, die mit gemalten Anfangsbuchstaben und absonderlichen Ungeheuern geschmückt, niedergeschrieben und in der Bundeslade aufbewahrt wurde, neben den langen Papierrollen mit Gesetzen.
Dann ging der Sommer herum, das Moos an den Hütten vermoderte, und draußen mußte die Arbeit ruhen. Dafür gab es nun Reichstage, Kunstausstellungen von selbstgemalten Bildern, glänzende Mohufeste mit Prozessionen durch das ganze Schloß und Turniere im Rittersaal. Grüngestrichene, hölzerne Gartenstühle waren die stolzen Rosse, die sich hoch aufbäumten, während die Recken sich mit höhnischen Reden zum Kampf herausforderten und mit eingelegter Lanze aus dem Sattel zu heben suchten.
An einem Sonntagabend im Winter saßen die drei Kinder allein im Eßzimmer.
Es war heute nichts Rechtes mehr anzufangen, Ellen mußte noch für morgen lernen, und Geerd sprach ein paarmal davon, jetzt nach Hause zu gehen. Aber jedesmal suchte Detlev wieder etwas Neues hervor, um ihn festzuhalten. Schließlich wühlte er den ganzen Bücherschrank durch und kam mit einem Stoß von alten Bilderbüchern wieder, die von irgendeiner Großmutter stammten. Sie blätterten darin herum und sahen gelangweilt auf all die ausländischen Tiere, Pflanzen und Völkertrachten.
»Jetzt kommen Eingeweide und Gerippe«, kündigte Geerd an. Ellen sah über ihre biblische Geschichte weg:
»Was ist das für ein Buch, das haben wir noch nie gesehen, glaube ich?«
»Es lag auch ganz zuunterst«, sagte Detlev.
»Eure Mutter hat es wohl vor euch versteckt, da sind Sachen drin, die ihr noch nicht sehen dürft.«
Geerd wollte das Buch zumachen, aber nun fielen die beiden darüber her.
»Was dürfen wir nicht sehen? – Gib doch her. – Was ist denn das, ein Embryo? – Weißt du das, Geerd?«
»Ja, ich weiß schon – das ist ein Kind, ehe es geboren wird. Du bist auch mal einer gewesen.«
Die Geschwister sahen die Illustrationen an und versanken in staunendes Schweigen. Dann wollten sie sich totlachen.
»Gibt es denn schon Kinder, ehe sie geboren sind?«
»Seid doch nicht so albern«, sagte Geerd und fing an, ihnen mit wissenschaftlichem Ernst den Zusammenhang zu erklären. Die Kinder hörten auf zu lachen, es erwachte zum erstenmal die Ahnung in ihnen, daß das Leben auch drohende, dunkle Tiefen barg, und es schien ihnen seltsam und entsetzlich.
Von diesem Abend an drehten sich ihre Gedanken und Gespräche fast ausschließlich um das große Geheimnis, das sie zu begreifen suchten und doch nicht ganz begriffen. Sie nahmen es alle drei sehr ernst – die ganze Welt verwandelte sich ihnen in einen Abgrund von unausdenkbaren Greueln, sie schämten sich ihrer Mitmenschen und verachteten sie. »Wie waren die nur imstande – fast alle Erwachsenen«, sagte Geerd – »sich mit solchen sinnlosen Widerwärtigkeiten abzugeben? Die Verheirateten, um Kinder zu bekommen, das ging ja wohl nicht anders, aber die übrigen? Zum bloßen Vergnügen? – Aber wie konnte ihnen das Vergnügen machen? Und warum bekamen die keine Kinder?«
So drängte sich ihnen Rätsel auf Rätsel, und alle wußte Geerd auch nicht zu lösen.
»Woher weißt du eigentlich das alles?« fragten sie einmal.
»Von meiner Mutter – sie sagt mir alles, was ich wissen will.«
Ellen und Detlev waren sehr erstaunt und beneideten ihn um seine Mutter. Bei ihnen war das ganz anders, sie gingen beinah schuldbewußt herum, seit sie so viel erfahren hatten, und zitterten, daß die Eltern es merken könnten.
Das Königreich geriet darüber mehr und mehr in Vergessenheit, wenigstens waren sie nicht mehr mit demselben Eifer dabei wie früher, und als die schöne Zeit wiederkam, machten sie lieber weite Spaziergänge miteinander. Der Mutter war es ein Dorn im Auge, daß Ellen immer nur mit den Jungen zusammen sein wollte, aber Geerd und Detlev ließen nicht nach, bis sie mitdurfte.
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