»Sollte ein Ritter sich mit Schande bedecken, den Ruhm verlieren, den Namen schänden – das Heer nicht erlösen, der Himmelskrone entsagen? Niemals!«
Und er ging mit vorgestreckten Händen weiter.
Da hörte er wieder ein Summen, aber es kam nicht mehr vom polnischen Lager her, sondern von der entgegengesetzten Seite, noch undeutlich, aber tief und drohend, wie das Brummen des Bären, der plötzlich im finsteren Walde wach wird. Aber die Unruhe hatte seine Seele schon verlassen, die Bangigkeit aufgehört, ihn zu bedrücken, und sich in ein süßes Erinnern an die Nächsten verwandelt; zuletzt, wie um auf das drohende Gemurmel von der Wagenburg her zu antworten, wiederholte er sich im Innern noch einmal:
»Und ich gehe doch.«
Nach einiger Zeit befand er sich auf jenem Teile des Schlachtfeldes, wo am Tage des ersten Sturmes die Reiterei des Fürsten die Kosaken und Janitscharen in die Flucht getrieben hatten. Hier war der Weg ebener, es fanden sich weniger Gräben, Gruben, Erdbedeckungen, und fast gar keine Leichen, denn die früher Gefallenen waren von den Kosaken beseitigt. Es war hier auch etwas Heller, da der Raum nicht so viel mit dunklen Gegenständen bedeckt war. Der Boden senkte sich nach Süden zu, aber Longinus bog gleich seitwärts ab, um sich zwischen dem westlichen Teiche und der Wagenburg durchzuschleichen. Er konnte jetzt schnell, ohne Hindernisse vorwärts gehen, und hatte fast schon die Außenlinie der Wagenburg erreicht, als ein neues Geräusch seine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Er hielt sofort an, und nach einer Viertelstunde der Erwartung hörte er näherkommenden Hufschlag und das Schnaufen von Pferden.
»Die Wachen der Kosaken!« dachte er.
Jetzt drangen auch menschliche Stimmen an sein Ohr; er lief also schnell seitwärts, und sobald er die erste Bodenunebenheit unter den Füßen fühlte, warf er sich zur Erde und streckte sich regungslos hin, in der einen Hand die Pistole, mit der anderen das Schwert haltend.
Die Reiter waren noch näher gekommen, jetzt waren sie in gleicher Linie mit ihm. Es war so finster, daß er sie nicht zählen konnte, aber er hörte jedes Wort ihrer Unterhaltung.
»Es wird ihnen schwer, aber auch uns wird es schwer,« sagte eine schläfrige Stimme. »Und wie viele Krieger haben ins Gras gebissen!«
»Himmelskönigin!« sagte eine andere Stimme. »Man sagt, der König ist nicht mehr weit, was wird mit uns geschehen?«
»Der Khan ist erzürnt auf unser Brüderchen, und die Tataren drohen, daß sie uns Fesseln anlegen werden, wenn niemand sonst da ist.«
»Auf den Weideplätzen schlagen sie sich mit den Unsrigen. Das Brüderchen hat verboten, in die Pferdekoppeln zu gehen, denn wer dorthin kommt, ist verloren.«
»Sie sagen, daß unter den Krämern verkleidete Lechen stecken. Daß doch dieser Krieg niemals gekommen wäre!«
»Und es geht jetzt schlimmer als vordem.«
»Der König ist mit der Macht der Lechen in der Nähe, das ist das Schlimmste!«
»He! In der Sitsch konntest du jetzt schlafen, und hier schlägst du dich in der Finsternis herum wie ein Spukgeist.«
»Es müssen auch Spukgeister herumschleichen, denn die Pferde schnauben.«
Die Stimmen entfernten sich mehr und mehr, zuletzt schwiegen sie.
Longinus erhob sich und ging weiter.
Ein feiner, nebliger Regen rieselte hernieder. Es wurde noch finsterer.
Zur Linken blinkte in einiger Entfernung ein Lichtlein auf, dann ein zweites, ein drittes, ein zehntes. Jetzt war er sicher, daß er sich auf der Linie der Wagenburg befand.
Die kleinen Lichter lagen weit auseinander und schimmerten blaß. Wahrscheinlich schlief dort alles, und nur hier und dort wurde vielleicht getrunken oder ein Gericht für morgen gekocht.
»Gott sei Dank, daß ich nach einem Sturme und einem Ausfall hierher gekommen bin, sie müssen zum Tode ermüdet sein,« sagte Longinus still für sich.
Kaum hatte er das gedacht, da hörte er Pferdegetrappel, – die zweite Wachtpatrouille kam.
Der Boden war hier nicht mehr zerrissen, er konnte sich leichter verstecken.
Die Wache ritt so dicht an ihm vorbei, daß sie ihn fast überritt. Glücklicherweise scheuten die Pferde, an das Überreiten der Leichen gewöhnt, nicht. Longinus ging weiter.
Auf einer Fläche von tausend Schritt stieß er noch auf zwei Patrouillen. Ersichtlich war der ganze Umkreis der Wagenburg bewacht wie ein Augapfel. Longinus freute sich nur, daß er nicht auf Wachtposten zu Fuß stieß, welche gewöhnlich vor den Wagenlagern aufgestellt waren, um den Patrouillen Nachricht zu geben.
Aber seine Freude sollte nicht lange währen. Kaum war er etwa ein Gewende weit gegangen, da tauchte etwa zehn Schritte vor ihm eine dunkle Gestalt auf. Longinus, obwohl unerschrocken, fühlte dennoch einen leisen Schauer seinen Körper durchrieseln. Sich zurückzuziehen und die Wache zu umgehen, dazu war es zu spät. Die Gestalt kam auf ihn zu, sie mußte ihn gesehen haben.
Es folgte ein Augenblick des Hin- und Herschwankens. Plötzlich fragte eine leise Stimme: »Wasyl, bist du es?«
»Ich bin es!« erwiderte leise Longinus.
»Hast du Branntwein?«
»Ich habe ihn.«
»Gib her.«
Longinus näherte sich.
»Was bist du denn so groß?« wiederholte dieselbe Stimme ängstlich.
Es schwankte etwas in der Finsternis. In demselben Augenblick entriß ein unterdrückter Aufschrei »Gott ...« sich dem Munde der Wache, dann hörte man ein Knirschen, wie von zerbrochenen Knochen, ein Röcheln – und eine Gestalt fiel zur Erde.
Longinus ging weiter. Aber er ging nicht mehr dieselbe Linie entlang; das war offenbar die Linie der Wachtposten. So lenkte er seine Schritte noch näher zur Wagenburg, in der Absicht, im Rücken der Vedetten und der Wagenreihe durchzugehen. Wenn es keinen zweiten Wachkordon hier gab, so konnte Longinus auf diesem Raum nur noch die Ablösungsmannschaften treffen, denn Abteilungen zu Pferde hatten hier nichts zu tun.
Nach einer Weile zeigte es sich, daß ein zweiter Kordon nicht da war. Dafür war die Wagenreihe nicht weiter als zwei Bogenschüsse von ihm entfernt. Wunderbarerweise schien er ihnen immer näher zu kommen, trotzdem er sich bemühte, immer in gleicher Entfernung von ihnen zu bleiben.
Es zeigte sich auch, daß nicht alle dort schliefen. An den hier und da glimmenden Feuerherden sah er deutlich die daran sitzenden Gestalten. An einer Stelle war das Feuer größer, so groß, daß sein Schein Longinus fast streifte, und er sich den Wachen wieder nähern mußte, um nicht in den Lichtkreis zu treten. Von fern erkannte er in der Nähe des Feuers an Säulen hängende Ochsen, welche von den Fleischern abgehäutet wurden. Ganze Gruppen Menschen sahen dieser Beschäftigung zu. Etliche spielten leise auf Pfeifen dazu auf. Es war also derjenige Teil des Lagers, welchen die Viehtreiber einnahmen. Die weiteren Wagenreihen waren in Finsternis gehüllt.
Aber die Wand der Wagenburg, welche matt beleuchtet war, schien ihm wieder näher zu kommen. Anfangs hatte er sie nur zur Linken gehabt; jetzt sah er sie plötzlich auch vor sich.
Er blieb stehen und dachte nach, was zu tun sei. Die Wagenburg, die Pferdekoppeln der Tataren und die Lager des Gesindels umgaben Sbarasch wie einen Ring. Inmitten dieses Ringes standen die Wachtposten und kreisten die Patrouillen, damit niemand hindurch könne.
Die Lage des Herrn Longinus war gräßlich. Er hatte nur die Wahl, entweder zwischen den Wagen durchzukriechen, oder zwischen dem Gesindel und den Pferdekoppeln einen anderen Ausweg zu suchen. So mußte er bis Tagesanbruch im Kreise umherirren oder nach Sbarasch zurückkehren; aber auch da konnte er in die Hände der Wachen fallen. Er sagte sich jedoch, es liege in der Natur der Sache, daß nicht ein Wagen dicht am anderen stehe. Es mußten in der Reihe bedeutende Lücken gelassen sein, denn solche Lücken waren für die Kommunikation unerläßlich.
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