Rolf Gröschner
Wolfgang Mölkner
Kants Doppelleben
Audienzen bei einem philosophisch Unsterblichen
mit Illustrationen
von Martin Turner
Rolf Gröschner, promovierter und habilitierter Jurist, war von 1993 bis zur Emeritierung 2013 Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Jena.
Wolfgang Mölkner, promovierter Philosoph, war von 1977 bis zur Pensionierung 2013 Gymnasiallehrer für Deutsch, Religion und Philosophie.
Martin Turner ist Kunstpädagoge, tätig als Künstler, Kunstvermittler und Musiker (www.martinturner.de).
Originalausgabe
© VERLAG KARL ALBER
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de
Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg
Herstellung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN (print) 978-3-495-49201-7
ISBN (epub) 978-3-495-82505-1
Vor allem: das Unsterbliche
1. Anfrage eines interessierten Lesers: Symptome eines Spaltungssyndroms?
2. Audienz für Martin Luther: Freiheit ist des Teufels
3. Audienz für Jean-Jacques Rousseau: Vive la république!
4. Audienz für Charles Darwin: Evolution – kein Affentheater
5. Audienz für Ludwig Feuerbach: Allmächtiger, Mensch!
6. Audienz für Friedrich Nietzsche: Kirchen sind Grabmäler Gottes
7. Audienz für Sigmund Freud: Lust kann keine Sünde sein
8. Audienz für Albert Einstein: Beschleunigte Uhren gehen langsamer
9. Audienz für Hannah Arendt: Reine Vernunft ist tyrannisch
10. Audienz für Immanuel Kant: Die Sinne sabotieren die Sitten
11. Dialog unter Unsterblichen mit Platon und Aristoteles
Nach allem: Kritik des Unsterblichen
Lampes Audienzarchiv
Vor allem: das Unsterbliche
Philosophisch führte Immanuel Kant ein Doppelleben: als Sinnenmensch und als Vernunftmensch. Sein Privatleben ist nicht unser Thema. Berühmt wurden seine Pionierleistungen in der Erkenntnistheorie und in der Moralphilosophie. Er entdeckte die übersinnlichen oder »transzendentalen« Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis (derjenigen des Raumes, der Zeit und der Kategorien) und erdachte den »kategorischen Imperativ«: das Grundgebot einer Moral, die zur unbedingten Beherrschung der Sinne verpflichtet.
Kants Interesse, ja seine Leidenschaft als Philosoph bezog sich auf beide Bereiche: erkenntnistheoretisch auf die Gesetze der »reinen Vernunft« und moralphilosophisch auf die Gesetze der »Sittlichkeit«. Weil letztere ein Handeln unabhängig von sinnlichen Neigungen gebieten, verlangt seine Philosophie eine systematische Trennung zwischen Sittlichkeit und Sinnlichkeit. Die Folge ist ein Spaltungssyndrom, das den Vernunft- und den Sinnenmenschen entzweit und ein philosophisches Doppelleben erzwingt.
Die schon zu Lebzeiten bestehende Berühmtheit Kants wurde mit seinem Tod im Jahre 1804 durch philosophische Unsterblichkeit geadelt. Dieses Unsterbliche seiner Philosophie war es, was uns vor allem interessierte. Es hat uns motiviert, acht prominenten Persönlichkeiten der europäischen Geistesgeschichte Gelegenheit zu geben, in fingierten Audienzen Anteil an Kants Immortalität zu nehmen. Seine sozusagen konimmortalen Audienzgäste sind: Luther, Rousseau, Darwin, Feuerbach, Nietzsche, Freud, Einstein und Arendt.
So schwer die Themen der Audienzgespräche wiegen mögen, so leicht werden sie präsentiert. Wir lassen die Gespräche im Rahmen virtueller Zeitreisen im Hause »Seiner philosophischen Majestät« in Königsberg stattfinden – allerdings nicht im Raum reiner Fiktion, sondern unter Rückgriff auf Originalzitate. Die Entzweiung des »Philosophenkönigs« bringen wir durch die doppelte Besetzung seiner Rolle zum Ausdruck: Als Mensch der Sinne tritt er unter dem Kürzel »S« auf, als Philosoph der Vernunft unter »V«. Sein Diener Martin Lampe (»L«) klärt die Audienzgäste über Kants doppelte physische Präsenz auf. Er hat die Audienzordnung ausgearbeitet und führt die Aufsicht über die Audienzen. Die Gäste sind anhand ihrer jeweiligen Initialen unschwer identifizierbar. Zur Einführung antworten die beiden Kants auf Fragen eines interessierten Lesers. In der letzten Audienz sprechen sie miteinander über ihre verschiedenen Vorstellungen von Philosophie und arrangieren einen zeit-losen Dialog mit Platon und Aristoteles. »Nach allem« laden wir den Königsberger Philosophen ein, sich gegen unsere »Kritik des Unsterblichen« zu verteidigen.
Kants Doppelleben hat als Thema des vorliegenden Buches den philosophischen Reiz, gleichermaßen Zustimmung wie Widerspruch zu provozieren: pro und contra Sinnlichkeit. Davon profitieren auch die Gesprächspartner. Da sie der Publikation ihrer Gespräche – und der Illustrationen – stillschweigend zugestimmt haben, scheint die Devise »publish or perish« auch für Unsterbliche zu gelten.
1. Anfrage eines interessierten Lesers:
Symptome eines Spaltungssyndroms?
LIch wurde mit dem Entwurf einer Audienzordnung beauftragt. Sie soll den Ablauf der Audienzen regeln, die auf Ansuchen prominenter Persönlichkeiten des Geisteslebens hier im Hause von Ihren beiden Majestäten gewährt werden: von Ihrer Vernunftmajestät und von Ihrer Sinnenmajestät.
VNachdem Er uns seit vierzig Jahren treue Dienste geleistet hat, ist dieser Auftrag ein verdienter Vertrauensbeweis.
SDie Eingangsformel sollte den Wohlfahrtsordnungen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nachgebildet sein und einen entsprechend hehren und respektheischenden Eindruck erwecken. Wie hat Er dies umgesetzt?
LIch darf den Entwurf zitieren: »WIR, Immanuel Kant, von Gottes Gnaden König der Deutschen Philosophie, verkünden Unseren philosophischen Untertanen hiermit folgende Audienzordnung«. In Anerkennung der Größe des philosophischen Herrschers wird das majestätische »WIR« mit Großbuchstaben geschrieben und werden die Audienzbegünstigten in Artikel 1 verpflichtet, für die Anrede Seiner Majestät den pluralis majestatis zu verwenden.
SVielleicht sollte man in Klammern »Majestätsplural« hinzufügen.
VWer Uns um eine Audienz ersucht, ist des Lateinischen mächtig. Der Klammerzusatz ist also unnötig.
LArtikel 2 lautet: »Fragen der Audienzbegünstigten haben mit dem Adressaten zu beginnen. Dafür stehen alternativ zwei Formeln zur Verfügung: ›Ich frage Ihre Vernunftmajestät‹ oder ›Ich frage Ihre Sinnenmajestät‹. Die erste Antwort gebührt dem Adressaten, eine ergänzende Antwort durch den Nichtadressaten ist aber zulässig.«
VDas erscheint Uns vernünftig.
SSollten WIR nicht lieber sagen »sinnvoll«?
LJedenfalls brauche ich den Entwurf an dieser Stelle nicht zu ändern.
SWelcher Raum ist für die Audienzen reserviert?
LDas ist in Artikel 3 geregelt: »Die Audienzen finden in der Bibliothek statt.«
SWem gewähren WIR die erste Audienz?
LDem Reformator Martin Luther. Er wollte unbedingt am 31. Oktober hier in Königsberg empfangen werden und behauptet, es handele sich bei dem betreffenden »Reformationstag« um einen ihm gewidmeten Feiertag.
VEr ist ja auch sonst sehr von sich überzeugt.
LEr wird es aber nicht wagen, die Audienzordnung ignorieren oder gar reformieren zu wollen. In dieser Hinsicht habe ich eher ein Problem mit dem Brief eines »interessierten Lesers«.
SWenn es sich um einen interessierten Leser Unserer Schriften handelt, weise Er ihn auf die Akademieausgabe hin, in der sogar unsere Briefe und der handschriftliche Nachlass enthalten sind.
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