Lampes Audienzordnung
LMein Problem ist ein anderes: Der Betreffende weiß, dass Ihre Majestäten beabsichtigen, die Audienzgespräche von mir stenographisch aufzeichnen zu lassen, um sie analog im Druck oder digital im Internet zu publizieren.
SDas kann er nur durch Ihn – den Eckermann Kants – erfahren haben.
LDer Briefschreiber hatte um die Übersendung der Audienzordnung gebeten, in deren letztem Artikel die Einwilligung der Audienzbegünstigten geregelt ist, die geführten Gespräche zu veröffentlichen. Ich hatte ihm die Ordnung zugesandt.
VSpreche Er nicht ins Unreine: Es kann sich noch nicht um die »Ordnung« gehandelt haben, sondern nur um deren »Entwurf«.
SHier war wieder einmal der Beckmesser der Vernunft zu vernehmen. Mich interessiert, was der »interessierte Leser« wissen will, wenn sein Interesse der Publikation der Audienzgespräche gilt.
LDie erste Frage nimmt direkt Bezug auf die für die Anrede Ihrer Majestäten verpflichtende Unterscheidung zwischen der Vernunft- und der Sinnenmajestät. Der Fragesteller möchte wissen, ob diese Unterscheidung »Symptom eines Spaltungssyndroms« sei.
VSchreibe Er ihm zurück: Die in der Sekundärliteratur zu findende Diagnose eines »Spaltungssyndroms« verwendet mit dem Wort »Syndrom« einen medizinischen Terminus, der für Unsere Philosophie unangemessen ist.
SWIR leiden nicht an einer philosophischen Krankheit. Aber WIR lassen uns auf das virtuelle Spiel ein.
LWeiter fragt der interessierte Leser Seine Vernunftmajestät nach dem Vermächtnis Platons. Der in der Eingangsformel so benannte »König der Deutschen Philosophie« erinnere ihn an den König der Platonischen Philosophenherrschaft. Deshalb lautet seine Frage »Wie viel Platonismus ist in der Kritischen Philosophie enthalten?«
VPlaton war ein philosophischer Genius höchsten Grades, in seiner Ideenlehre aber ein Genie seiner Zeit. WIR mussten seine Lehre deshalb von der Metaphysik der Alten auf eine neue, erkenntnistheoretische Metaphysik umstellen, die WIR Transzendentalphilosophie genannt haben.
LEs ist zum geflügelten Wort geworden, den betreffenden Umsturz der Philosophie mit der von Seiner Majestät gebrauchten Wendung eine »Revolution der Denkart« zu nennen …
S… die WIR aber erst in der zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« in deren Vorwort aufgenommen haben.
LDie Vernunft ist manchmal zu schnell, um sie sofort ergreifen zu können. Das gilt auch für Seine Vernunftmajestät.
VSchweig Er! Revolutionen müssen wohlbedacht sein.
LWeiter wird gefragt, warum überhaupt von Revolution die Rede ist. Der interessierte Leser ist von dem Wort irritiert, er meint sogar, dass damit zum Umsturz aufgerufen wird!
VUmstürze eines veralteten Weltbildes – die man nach aktueller Wissenschaftstheorie »Paradigmenwechsel« nennt – sind stets revolutionär gewesen, auch wenn sie mit dem Aufstand der Massen nichts zu tun haben. Eine transzendentale Revolution ist per se unblutig.
SErst dieser unrasierte, kopflose Marx hat in ganz unanständiger Weise von politischer Revolution geredet. Bei Unserer Revolution geht es nicht um Macht, sondern um Erkenntnis und Wahrheit.
VBis WIR die Vernunft kritisch betrachteten, haben die Denker vor Unserer Zeit versucht, die Wirklichkeit abzubilden. WIR dagegen konstruieren das, was wir Wirklichkeit nennen.
SAber auch für Unseren »Konstruktivismus« – ein Begriff, der erst im 20. Jahrhundert gebräuchlich wurde – gilt: Alle Erkenntnis beginnt mit der Erfahrung, also mit einem Begriff aus der Welt der Sinne oder aus dem mundus sensibilis.
VWIR mussten die unterbelichteten Engländer aufklären, dass selbst sinnliche Erfahrung nicht ohne Subsumtion unter vorgegebene Begriffe aus dem mundus intelligibilis möglich ist.
SDer Fragesteller wird doch mit dem Computer umgehen können. Dann weiß er: Für Datenverarbeitung ist eine Software nötig.
VEr kann sich den theoretischen Verstand und die praktische Vernunft mit ihren Begriffen als Software vorstellen.
SAber die schönste Software ist ohne Daten sinnlos.
VWIR pflegen zu sagen: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind«.
STranszendentalphilosophisch werden uns die »reinen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit« ebenso »rein«, also ohne empirische Beimengung vorgegeben wie die Kategorien …
L… etwa die Kausalität mit ihrem Verhältnis von Ursache und Wirkung.
VUnterbreche Er nicht! Sobald WIR Philosophie nach der großen Revolution betreiben, kommen WIR ohne Erkenntnistheorie nicht aus. Das heißt: WIR müssen immer erst die vor aller Erfahrung gelegenen, »apriorischen« Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis klären, unter denen WIR etwas als ein bestimmtes Etwas begreifen können.
LIm Entwurf der Audienzordnung ist vorgesehen, den Audienzbegünstigten eine Transzendentalbrille anzubieten, mit der sie die apriorischen Bedingungen der Erkenntnis sehen können. Ich habe mir erlaubt, eine solche Brille zu konstruieren.
SRespekt, Lampe! Was durch diese Brille zu sehen ist – die transzendentale Dimension Unserer Philosophie –, verdient als hervorragendes Zeugnis technischer Kompetenz höchste Anerkennung.
VTranszendentalphilosophie ist aber »reine« Philosophie, die als solche nur gedacht werden kann und nicht angeschaut.
SDas werden Sinnenmenschen anders sehen. Vor allem Mitglieder der jüngeren Generation sind an 3D- oder Virtual-Reality-Brillen gewöhnt. Für sie wäre es nicht nur reizvoll, sondern philosophisch hilfreich, das an sich unsichtbare, »rein« Transzendentale vor Augen zu haben.
LIch habe darauf geachtet, dass die Transzendentalbrille keine Auswirkungen auf die Duplizität Ihrer physischen Präsenz hat.
SWIR loben Ihn!
VDann geben WIR die Transzendentalbrille aber nur heraus, wenn dies ausdrücklich gewünscht wird und verlangen eine Gebühr dafür.
LAus Marketinggründen wird in der Audienzordnung von einer »geringen Gebühr« die Rede sein.
VDas ist keine Frage des Marketing, sondern der Moralität.
SWIR verpflichten unseren treuen Diener Martin Lampe daher, für alle Dienstleistungen gegenüber Unseren Audienzgästen nur eine geringe Gebühr zu verlangen.
2. Audienz für Martin Luther:
Freiheit ist des Teufels
L Majestät, Pardon: Majestäten, der große Reformator Martin Luther steht an der Tür.
S WIR wollen ihn etwas warten lassen, denn WIR haben noch nicht vergessen, wie despektierlich er Unseren Erasmus von Rotterdam abgekanzelt hat.
L Oh – der Ungestüme hat sich bereits Zutritt verschafft.
ML Kant, ich muss Ihnen gehörig die Leviten lesen! Hier stehe ich und kann nicht anders! Blitz und Donner! Was sehe ich? Der Satan hat ihn aufgespalten!
L Halte Er sich gefälligst an die Audienzordnung! Sie verlangt eine Anrede im Majestätsplural!
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