»Wirklich? Ein Trio?«
»Sicher«, sagte Paul und machte einen langen Zug aus seiner Pfeife.
»Das ist die neue Zeit, Ketil!«
»Im Moment ist so schrecklich viel die neue Zeit.«
»Wie meinst du das?«
Er wusste nicht, was er meinte. Aber das hier war eine musikalische Landschaft, in die er sich mehr und mehr hineinsehnte. Auf der Insel hatte der Keramiker Eyvind ihm so viel über Rock beigebracht. Über Gruppen, von denen er noch nie gehört hatte. Endlose Abende konnten sie beieinandersitzen und Schallplatten laufen lassen. Außerdem gab es im NRK die großen Abendsendungen von der Loreley, wo die allergrößten Künstler auftraten. Dort hatte er zum ersten Mal Genesis auf der Bühne gesehen.
Als ob er sich nach festeren Rahmen sehnte, statt nach der großen Freiheit des Jazz, die an einem schlechten Tag mit etwas Unverbindlichem verwechselt werden kann. Die neuen norwegischen Gruppen wie Kjøtt, The Cut und The Allerværste waren an ihm vorbeigeglitten. Aber De Press gefiel ihm, Andrej Nebbs Wahnsinn. Für Menschen, die auf der Straße Flügel zerschlagen wollten, hatte er immer Sinn. Das hatte er von Svein Finnerud und Bjørnar Andresen gelernt. Und Eyvind hatte ihn auf das Stavangerensemble aufmerksam gemacht, diese neue Version eines Orchesters, das Karsten Andersen, der Jugendfreund der Mutter, in den sechziger Jahren dirigiert hatte. Ein kleines Ensemble, das zu einem Symphonieorchester heranwachsen konnte, das jede Woche im Radio zu hören war, mit Light Music als Spezialität. Aber das neue Stavangerensemble war alles andere als light. Als er an jenem Abend mit Paul nach Lillehammer gefahren war, hatte er gedacht, dass The Police gerade im Moment den maximalen Ausdruck habe. Sie schufen eine wirklich moderne Musik, die mehr war als ein Fragment. Sie legten die Prämissen für diesen Teil der zeitgenössischen Musik, der sich weit fort von den Albernheiten der Avantgarde-Musik befand. Er stand unter Schock, und das sah Paul.
»Und was wirst du daraus machen?«, fragte Paul mit einem Lächeln.
Er wusste es nicht. Noch nicht. Er glitt auf Kalvøya in den Backstagebereich und sah, dass Paul zu den Wolken starrte. Er lebte vom Wetter. Wenn es an dem Wochenende regnete, an dem das Kalvøya-Festival laufen sollte, verlor er mehrere Jahreseinkünfte. Wenn die Sonne schien, verdiente er sie. Er kann sich an das Wetter an jenem Tag nicht mehr deutlich erinnern. Aber draußen im Gras sitzen viele Tausende. Er würde gern ganz anders spielen als beim letzten Mal. Woher kommt diese Aggression? Er hatte sich seit zwei Tagen nicht mehr übergeben. Sein Körper kam ihm ruhiger vor, aber sein Gewissen war schwärzer. Sowie er zu viel aß, stellte sich der Speck wieder ein. Das war der Albtraum, dass er wieder die Kontrolle verlieren könnte. Die Unruhe war ein Teil dieser Aggression. Er suchte nach einer Kontrolle, die er nicht hatte, außer wenn er sich dem Ende eines Romans oder einer Schallplattenproduktion näherte. Dann musste er Entscheidungen treffen. Und Entscheidungen zu treffen fiel ihm leicht. Fast so leicht wie Ole. Blitzschnell. Ganz ohne Bedenkzeit. Er hätte ein Haus ungesehen kaufen können. Er hätte einer Frau, die ihm noch nie begegnet war, einen Heiratsantrag machen können. Und er wusste noch nicht, ob das eine Stärke war oder eine Schwäche.
Er staunt noch immer darüber, dass er, der den fünften Platz anstrebte, niemals Angst vor großen Bühnen hatte. Aber in dieser Art von Musik gab es viele, die einander halfen. Sven Persson saß dort draußen irgendwo im Publikum. Für ihn spielte es keine Rolle, ob ihm hundert oder 15 000 zuhörten. Viele Jahre später sollte er bei den größten Stadionkonzerten von a-ha den Ton mischen. Wir kannten einander jetzt. Waren Freunde. Er hatte in seiner Kindheit einige Sommer auf Sandøya verbracht. Ich konnte Dalsland oder Fugløya sagen und er wusste, wovon die Rede war. Dieses große Podium mit dem kleinen elektronischen Flügel betreten. Ich war jetzt von Sven abhängig. Er musste die Obertöne finden, die es in einem akustischen Instrument gab, welche die digitale Wirklichkeit aber niemals herbeischaffen konnte. Er sollte mir die Klänge zurückgeben, die ich nicht selbst hervorbringen konnte. Die Töne, für die ich mich beim Spielen entschied, waren nur digitale Signale. So, wie ein E-Gitarrist Hilfe von seinen Pedalen braucht, von Delay und Reverb, brauchte ich Hilfe von Svens Mischpult dort draußen in der Menschenmasse. Solange er dort war, fühlte ich mich sicher. Ich hatte keine Angst vor dem Digitalen. Gerüchte behaupteten bereits, dass es bald eine digitale Methode geben würde, um Schallplatten abzuspielen, die sogenannte CD oder Compact Disc, bei der der Klang mithilfe von binären Codes wiedergegeben wurde, nicht analog. Das alles überstieg jedenfalls meinen Verstand. Dass eine Codesprache, die auf den Ziffern 0 und 1 aufbaute, den Klang akustischer Instrumente wiedergeben konnte, war eine Tatsache, die ich niemals begreifen würde, sowenig, wie ich begriff, dass zwei kleine Lautsprecher den Klang einer Stradivari wiedergeben konnten.
Sven da draußen im Publikum. Ich hinter dem Klavier. Dem elektronischen. Dem ohne Obertöne.
Ich verspürte dennoch eine seltsame Freiheit. Fühlte mich zu einer Welt hingezogen, die so weit von Bechstein, Steinway und einem akustischen Klangbild entfernt war wie überhaupt nur möglich. Die Sehnsucht nach dem Klangraum des Synthesizers, der Energie in der Musik, die Strom brauchte, um zu funktionieren. Ich hatte das Klangbild von The Police im Kopf. Aggression als Triumph, wie ein liebevolles und dennoch menschliches Projekt. Sich trauen, Gefühle zu zeigen. In einer elektronischen Wirklichkeit konnte das so gewaltsam werden. Aber dort draußen im Juniabend wusste Sven, wo ich hinwollte. Er fing eine Phrase auf, schleuderte sie durch das Mischpult und den Klang, der ihm zur Verfügung stand, schickte sie zurück aufs Podium, über das enorme PA-System auf beiden Seiten der Bühne, mit Delay, Verspätungen und Klangskulpturen, die ich auffing, die auf meinen Monitor zurückkehrten und mir neue Ideen gaben. Als säße ich in einer Apollo-Kapsel weit draußen im All und spräche mit Houston. Wir waren beide abhängig voneinander, wenn das hier gut werden sollte. Aber Sven kannte ich, und er wusste, was Dalsland war, er wusste von den Pfaden draußen bei Hella, er kannte Hans Petter auf Hauketangen, er erinnerte sich an die alten Tanten und er wusste, welche Musik mir gefiel, welche ihm selbst gefiel. Und, das Wichtigste von allem, wir machten es nicht für Geld. Wir hätten auch gratis auftreten können. Aber wir glaubten an diese Art, miteinander zu reden. Durch die Musik. Das, was Paul Karlsen antrieb, trieb auch uns an. Die Freude, etwas entdeckt zu haben, das außerhalb der Diagramme, Prognosen und Statistiken der Maklerwelt und der Geldleute lag. Und ich weiß nicht einmal mehr, was ich gespielt habe. Aber ich weiß, dass ich mit Sven im Duett spielte, auch wenn die Wenigsten begriffen, dass noch ein anderer da war. Einer, der durch Klänge sprach, durch Verzögerungen, durch Strom. Ja, jetzt weiß ich es wieder. Eine Regenfront fegte vorüber. Danach ging ich hinter die Bühne und fand eine Toilette. Santana lächelte mich an und machte sich bereit für seinen Auftritt.
US-Präsident Jimmy Carter hat Probleme mit den neuesten Meinungsumfragen, nachdem er zuerst deutlich in Führung lag. Die katastrophal misslungene Geiselaktion im April hat das amerikanische Selbstbewusstsein ins Wanken gebracht. Sie sind enttäuscht von diesem Erdnussfarmer aus Plains in Georgia. Die Verhandlungen von Camp David sind jetzt lange her. Er kann sich nicht mehr im Blitzlichtglanz sonnen. Er hat sich als außenpolitisch unsicher und ungeschickt erwiesen, und dass die amerikanischen Geiseln noch immer im Iran gefangen sind, ist fast nicht zu begreifen für die vielen patriotischen Amerikaner, die sich selbst als einzigartige Vertreter des wichtigsten Volkes auf Erden begreifen. Diese verdammten Khomeinis dürfen keine Nation demütigen, deren Präsident bei allen offiziellen Anlässen Gott um seinen Segen anfleht. God bless America. Soll der Teufel alle holen, die es wagen, das uneingeschränkte Recht auf Freiheit dieses Volkes anzukratzen. Für immer mehr Amerikaner ist es unbegreiflich, dass Carter diese Gefangenen noch nicht befreien konnte. Und der republikanische Präsidentschaftskandidat Ronald Reagan weiß diese Situation auszunutzen.
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