Sollte ich wirklich allein mit Lill losziehen zum absoluten Hotspot und After Dark sehen, die Dragshow mit der »schönsten Frau Schwedens«, Christer Lindarw, dem Sohn eines Speedwayfahrers? Seine Parodie auf Lill war der Höhepunkt in seiner raffinierten Show.
Als wir vor dem Theater aus dem Taxi steigen, geht es wie ein Rauschen durch die Menschenmenge. Lill Lindfors! Hier ist sie! Wirklich! Sie hakt sich bei mir ein, und ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll, wie ihr todkranker, Hilfe brauchender Vetter vierten Grades, den sie aus Kiruna oder Umeå hergeholt hat, um ihm etwas Gutes zu tun? Oder soll ich die norwegische Karte ausspielen? Den Stallwichtel? Den Hilfesuchenden? Sie, die Waisenkinder in aller Welt besucht, die in Afrika war, um den hungernden Müttern zu helfen, jetzt kommt sie mit diesem armen Norweger her, mit dem sie eine LP aufnimmt, nur um sein elendes Selbstbild zu retten. Ich gehe dicht neben ihr, merke, dass jemand mit Blitz fotografiert, versuche zu lächeln, während ich mich im Glanz sonne. Ja, ich habe schon einen Sonnenbrand. Meine Haut pellt sich. Lill lacht und lächelt mich an. Keine kann lächeln wie Lill Lindfors.
Drinnen gibt es Glamour und laute, intensive Musik. Nichts weist daraufhin, dass in Schweden gerade überall gestreikt wird. Wir landen in der Welt der Verkleidungen. Lindarw und seine Herren erschaffen eine Damenwelt, die selbst sabbernden Tattergreisen die Potenz zurückgeben kann. Ich sitze da mit großen Augen und offenem Mund und glotze. Kann das wirklich möglich sein? Diese Menschen zaubern doch mit ihren Körpern und mit Schminke und Haltung. Ihr Selbstvertrauen ist ansteckend. Sitze ich hier und denke, dass Lill und ich ein Album eingespielt haben, von dem wir Tausende Exemplare verkaufen werden? Sind wir schon dicht vor einem großen Hit? Etwas in der Größenordnung von Du är den ende? Was? Was? Reden wir jetzt über klingende Münze? Welcher Champagner erwartet uns nach der Show? Was wagen sie, uns nicht anzubieten? Sind schon Gerüchte über diese LP im Umlauf? Und da kommt Lill Lindfors! Die Frau, neben der ich in der dritten Reihe sitze. Aber sie kommt von der Bühne her. Sie ist strahlend schön in einer weißen Kreation, und sie zeigt die perfekten Beine, Haut und Seide, streicht wie eine selbstsichere Katze über die Bühne, während die Stimme der Lill, die im Saal sitzt, aus den Lautsprechern strömt. »Er geht wie ein Kerl / Er sieht aus wie ein Kerl / mit einem Körper wie ein Kerl / und küsst, wie ein Kerl das soll.« Gelächter wogt durch den Saal. Alle sehen ja, wie sehr er sich an ihr orientiert, wie er ihr zuzwinkert, wie sie da neben mir sitzt und höflich mitsingt, um klarzustellen, wie entzückt sie von der Parodie ist. Er geht fast ihre gesamte Hitliste durch, und als er bei Du är den ende ankommt, explodiert der Saal. Die Sinnlichkeit auf der Bühne ist so überwältigend, dass Lill losprustet. Für wenige Sekunden scheint Lindarw mehr Lill zu sein als Lill selbst. Es entsteht eine magische Kommunikation zwischen dem, der parodiert, und der, die parodiert wird, vielleicht, weil es gar keine Parodie ist, sondern eine Imitation, eine Widmung, ein Ausdruck der Bewunderung, Lindarws Version einer Frau, die er hätte sein können, die er vielleicht gern wäre, wenn er die Möglichkeit dazu hätte. Als ob Lindarw als Lindfors besser wäre denn als Lindarw. Das Dach hebt sich vom Theater.
Ted Turner, der Medienmogul aus den USA, auf den ich zehn Jahre später gewaltig eifersüchtig sein werde, als er Jane Fonda heiratet, meine ewige Barbarella mit den sichtbaren Orgasmen, gründet Cable Network News, zusammen mit 25 anderen Investoren, die zusammen 20 Millionen Dollar in den neuen Fernsehsender schießen. CNN wird rund um die Uhr Nachrichten senden. Das ist bisher noch nicht dagewesen. CNN soll zudem zu einem globalen Fernsehprojekt werden, mit Büros in den USA, Europa, Asien, Afrika und Lateinamerika.
Ich sitze draußen auf der riesigen Terrasse, die wir gebaut haben, und lese über dieses Projekt, verspüre einen Stich Sehnsucht nach Stadt, Kabeln, Satelliten, Rockmusik und Technologie. Ich lese, was Ted Turner in Verbindung mit der Einweihung von CNN gesagt hat: »Wir werden erst aus dem Äther verschwinden, wenn die Welt untergeht. Wir werden dabei sein, wir werden live berichten, und es wird unsere allerletzte Sendung sein. Wir werden einmal die Nationalhymne spielen, wenn wir am 1. Juni auf Sendung gehen, und das ist alles. Und wenn die Welt untergeht, werden wir Näher, mein Gott, zu dir spielen, ehe wir endgültig verstummen.«
Sofort ein eiskalter Wind. Wie bei einer Sonnenfinsternis.
Die Welt geht unter?
Das sagt ein steinreicher Philanthrop, der einen rund um die Uhr sendenden Nachrichtenkanal eröffnen will?
Wie hat er das eigentlich gemeint? Weiß er mehr als wir?
Plötzlich ist die Angst der Kubakrise wieder da. Der neun Jahre alte Junge. Die Luftschutzräume.
Die kreideweißen Gesichter meiner Eltern.
Der Sommer kommt immer als Überraschung. Man vergisst ihn jedes Jahr. In diesem Land sind alle Jahreszeiten so lang, dass man glaubt, sich in einem ewig währenden Zustand zu befinden, jedes Mal, wenn eine Jahreszeit lang genug war, um sich um uns zu schließen. Drei Monate Sommer, drei Monate Herbst, drei Monate Winter, drei Monate Frühling.
Jetzt ist wieder Sommer.
Alles, was in Stockholm geschehen ist, ist lange her.
Wenn Ole sich über mich lustig machen will, nennt er Sandøya Saltkrokan. »Wir auf Saltkrokan – zwanzig Jahre später«, sagt er. Es ist nicht freundlich gemeint. Zu viel Idyll. Zu viele Spitzengardinen und Kelims vor den Zusammenbrüchen, Scheidungen und existenziellen Schiffbrüchen. Bald wird uns auch der junge Autor Roy Jacobsen in der Zeitung verspotten. So kann man doch nicht wohnen, in kleinen idyllischen Holzhäusern. »Harmonie kann ebenso provozierend wirken wie eine gute Melodie«, sage ich zu Ingar Marcussen, der soeben mit seiner Familie auf die Insel gezogen ist. Er ist Architekt, seine Frau Architektin. Er hat eine Brille wie die deutschen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit. Er ist fast so groß wie ich und kann nie aufhören, sich über seine Arroganz lustig zu machen. Die kann aber auch reichlich abscheulich sein. Aber wenn sich sein Gesicht zu einem Lächeln öffnet, einer plötzlichen und unerwarteten Anerkennung oder sogar zu einem Eingeständnis, dann ist er unwiderstehlich. Mir ist noch nie ein Mensch mit einer solchen Ähnlichkeit mit Gustav Mahler begegnet, und als ich ihn dann besser kennenlerne, werde ich um ein Haar zum vollwertigen Anthroposophen und halte ihn für die Inkarnation von Mahler, mit derselben Schönheit, mit Himmel und Hölle in seinem Inneren. Er kann ebenso lärmend entsetzlich sein wie die meisten ersten Sätze in Mahlers Symphonien, wo die Wiegenlieder der Kindheit mit den kräftigsten Militärmärschen und für Skelette geschriebenen Walzern ringen, die Kastagnetten wurden ersetzt durch klappernde Särge, genau wie in den Scherzi. Aber außerdem ist in ihm Platz für die langsamen Sätze, die himmelstrebenden Themen, die nie ein Ende finden, Liebeserklärungen mit so viel existenziellem Schmerz, so tiefer Trauer, dass ich mich frage, woher er eigentlich kommt, auch wenn er behauptet, von der Akersborg terrasse. Den Namen Marcussen jedoch hat er von den Gutsbesitzern auf der Nachbarinsel Askerøya, einer Sippe mit viel Charme und keinem geringen Grad an Selbstbewusstsein. Es war Ingars Tante, die mich im Rathaus von Tvedestrand angeschrien hatte in den siebziger Jahren, als ich mit keiner Geringeren als Lillebil Ibsen auf der Bühne stand. »Leiser spielen, Bjørnstad!«, hatte sie gerufen. Ingar erinnert mich immer wieder an diese Episode. Er stammt aus einer Familie von starrköpfigen Menschen mit scharfen Ohren, Grundbesitz und fixen Ideen. Sein Verwandter Jens Marcussen wird seinen Platz in der neuen rechtspopulistischen FRP finden, Ingar dagegen gehört keiner Partei an. Er gehört nur sich selbst und der wunderbaren Familie, von der umgeben zu sein er das Glück hat. Ich habe schon in den sechziger Jahren von seiner Frau geträumt, viele Jahre ehe ich ihr zum ersten Mal begegnet bin.
Читать дальше