Inzwischen sind wir so viele Zugezogene auf dieser Insel, dass wir angefangen haben, uns in Gruppen zu sammeln, Literaturgruppen und Musikgruppen, um uns daran zu erinnern, woher wir kommen, aus den Städten und der Urbanität, aus Konzerthäusern, Theatern und Rockclubs, aus Buchläden, Musikgeschäften und Kunstgalerien.
Ingar macht diese Flucht für viele von uns möglich. Er hat sich darauf spezialisiert, Kopien von sogenannten Südküstenhäusern, Schifferhütten oder wie immer man es nennen will, zu entwerfen. Er hat sich mit der Gemeinde wegen Grundstücken und Abwasseranlagen gestritten. Er sorgt dafür, dass noch die Ärmsten unter uns mit bloßen Händen ein Haus bauen können. Er will nicht mit druckimprägniertem Material bauen. »Am Ende muss alles zerfallen«, sagt er. »Verfaulen. Verschwinden. Platz für neues Leben machen. Wenn wir solche grundlegenden Dinge nicht begreifen, haben wir hier auf der Erde nichts zu suchen.«
Obwohl er herkömmliche Einfamilienhäuser entwirft, ist er Spezialist für moderne Architektur, das Erbe von Bauhaus, Gropius und van der Rohe. Ich weiß nicht so ganz, was er will, wenn er diese Pioniere erwähnt, ob er ihnen huldigen oder sie heruntermachen will. Aber unser Haus hat bereits seinen Hass erregt.
»Ein schnödes Rødland-Haus. Damit kannst du dich nicht sehen lassen, Ketil, auf so einer Insel.«
»In der Zeitung hat doch schon gestanden, dass es hier draußen zu viel Idylle gibt.«
»Redest du hier von Dagbladet? Sag mal, liest du auch dein Klopapier?«
Wir stehen an einem heißen Junitag vor dem Haus, kurz vor einem Fest. Wir sind beide guter Laune. Jetzt ist die Zeit für die großen Ideen. Fliederduft, Schalentiere, Weißwein.
»Sieh doch mal, was ihr für einen Dachboden haben könntet. Keine Idylle, sondern einen Geistesbau!«
Ingar zeichnet einen Grundriss in die Luft. Ich folge seinen Handbewegungen und sehe, dass das Haus doppelt so groß wird, mit riesigem Dachboden und Erkern.
»Ein ganz anderes Haus«, sage ich.
»Genau«, sagt Ingar.
»Aber ich kann mir das nicht leisten«, sage ich.
»Wer denkt an Geld, wenn man große Kunst erschafft?«, sagt Ingar.
»Ich werde es mir überlegen«, sage ich.
»Aber ich hatte jetzt die Idee«, sagt Ingar. »Ich schlage vor, wir sagen, Baubeginn nächstes Jahr.«
»Aber man kriegt den Flügel nicht hoch auf den Boden, Ingar.«
»Natürlich nicht. Da wird der Webstuhl deiner lieben Hausgenossin stehen. Du musst in den Keller, du armer Wicht. Wo du hingehörst.«
Juni 1980. Die langen Tage, an denen man nicht weiß, ob man arbeitet oder Ferien hat. Er sitzt am Flügel, weiß aber nicht, ob er arbeitet oder nur spielt. Was denken sie drüben in Schweden? Welche Erwartungen haben sie an Och människor ser igjen ? Er denkt an die hoffnungsfrohe Stimmung am letzten Tag im Studio. Ola Brunkert war zu ihm gekommen und hatte ihn umarmt. Finnes du noensteds ikveld war gleich beim ersten Versuch gelungen. Es wurde so gefühlsstark. Alles, was sie damals nicht wussten. Dass Ola viele Jahre später in seinem Haus auf Mallorca in eine Glastür laufen und sich eine tödliche Wunde am Hals zuziehen würde. Dass sich Conny, der unglaubliche Gitarrist mit den kleinen lateinamerikanischen Instrumenten mit Idas Schwester Jannicke zusammentun würde. Dass das nur der Anfang einer lebenslangen Freundschaft zwischen Lill und ihm war. Er war zu Anders Burman gegangen und hatte gefragt: »Seid ihr enttäuscht, wenn das keine Hunderttausend verkauft?« Der Produzent hatte ihm beruhigend auf die Schulter geklopft. »In dieser Branche ist nichts vorausbestimmt, junger Mann. Wir müssen einfach abwarten.«
Und es waren noch viele Monate bis zur Veröffentlichung.
Ihm ging auf, dass er jetzt vom Verkauf abhängig war. Es bedeutete etwas, dass Tidevann auf der Bestsellerliste von VG vertreten gewesen war. Er musste schließlich das Geld besorgen, aber plötzlich hatte sich die Entfernung zwischen dem Geld und ihm vergrößert. Manchmal lebte er von seinem überzogenen Konto. Dann wurde er nervös und lag nachts wach. Sein Manager, Paul Karlsen, schien das verstanden zu haben. Jedenfalls wurde er ein weiteres Mal zu einem Soloauftritt auf Karløya eingeladen, zwischen Santana und Tom Robinson. Was für eine Ehre, dachte er. Wurde er jetzt zum Popmusiker? Oder schlimmstenfalls: Schlagerkomponist? Sollte er diesmal ein E-Piano riskieren? Es hatte ihn oft überrascht, dass Elton John, der doch wirklich Klavier spielen konnte, den Flügel auf seinen Schallplatten so grauenhaft klingen ließ. Keine Obertöne, nichts von der Wärme in seiner Stimme. Hatte er den Klang des Flügels von Manfred Eicher von ECM nicht gehört? Begriff er nicht, wie viel besser es klingen konnte? Aber wer Schallplatten verkaufte, das war Elton John. Hunderttausende.
Auf der Insel und in der Stadt lag viel Energie in der Luft. Der Besuch in Stockholm war eine Vorwarnung gewesen. Er hatte so viele Menschen gesehen, die auf dem Dach der Welt einherschritten, die die Gnadengabe der Selbstsicherheit besaßen. Und niemand von denen, die ihm begegnet waren, hatte sich um Geld sorgen müssen. Aber das Geld kam nicht bei allen an. In Oslo gab es trotzdem noch mehr junge Männer im Anzug, die zwischen Banken und Maklerfirmen hin und her rannten. Es gab einen Willen zur Expansion, der sich sogar auf der Insel niederschlug. Die neuen Häuser, die gebaut wurden, mussten mit etwas gefüllt werden. Er dachte plötzlich an Tante Svanhild, die seit über fünfzig Jahren in der Gabels gate wohnte. Dieselben alten Möbel, das Sofa, das sie aus ihrem Elternhaus in Fredrikstad mitgebracht hatte. Er war immer so gern bei ihr. Spürte etwas, das fast ewig sein könnte, das sie aber doch, wie er vorausahnte, bald verlassen würde.
Die langen Tage auf der Insel brachten ihn auf solche Gedanken, ließen ihn zwischen den kleinen Häusern herumlaufen, die sich bald mit Menschen füllen würden, und denken, dass etwas passieren würde, dass etwas eine Vorwarnung war, nur ein Ton, fast wie das Signal einer Trillerpfeife, unhörbar für alle anderen außer denen, die die Möglichkeit des Geldes sahen, die Möglichkeit der Expansion. Ingar saß in seinem Architektenbüro in Tvedestrand und zeichnete ein ganz neues Haus für ihn und seine Geliebte, die ihren Namen nicht genannt haben will, über die er aber dennoch schreiben darf. Die er die Andere nennt.
Auf Kalvøya steht der Festivalleiter Paul Karlsen in seiner Lederweste und raucht Pfeife. Das warme Lächeln, das er immer sieht, selbst wenn er mit Paul nur telefoniert, und das tut er oft. Paul hat einen Teil seiner Tourneen übernommen. Es gibt nicht länger nur die Rikskonzerte. Noch im Winter war er mit Paul nach Lillehammer gefahren. Paul vernebelte das ganze Auto mit seiner Mac Barens-Mischung, aber es roch süß und gut.
Noch hatte er das Gefühl, nicht ganz zu begreifen, was Paul von ihm wollte. Paul hatte so viel größere Künstler in seinem Stall. Cornelis Vreeswijk zum Beispiel. Im Frühjahr hatte er angekündigt, mit ihm sprechen zu wollen, hatte aber nicht gesagt, worum es ging.
An diesem Abend, als der Winter seinen Griff gefestigt und die Straßen mit Schneeglätte überzogen hatte, schob Paul plötzlich eine Kassette in die Anlage.
»Ich dachte, das müsstest du hören«, sagte er und drückte auf Play.
Zum allerersten Mal hörte er The Police. Reggatta de Blanc .
Zuerst fiel ihm das Schlagzeug auf. Stewart Copeland. So etwas hatte er noch nie gehört. So aggressiv und zugleich so frei. Keine lärmende Sinnlosigkeit, wie er sie im Punk oft fand, sondern eine virtuose Technik, die gewaltige dynamische Möglichkeiten schenkte. Er fing an zu lachen.
»Ist das nicht etwas ganz Besonderes?«, fragte Paul.
Im selben Augenblick hörte er die wogende, strömende Gitarre von Andy Summers, der ihn in Bring on the Night fast in Ekstase versetzen sollte. Und die ganze Zeit war Sting da, laut und leise, mit seinem tiefen präzisen Bass und der hellen, intensiven Stimme.
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