Trotz solcher Misslichkeiten ging es uns im Grunde sehr gut. Die starken Gegensätze, die Russland seit jeher prägten, zeigten sich auch in Petersburg. Die Stadt war erst 1703 gegründet worden. Peter der Große hatte Tausende von Leibeigenen gezwungen, ihm diese neue Hauptstadt zu bauen. Mitten in einem Sumpf, hoch im Norden, unter unvorstellbar harten Bedingungen. Zustände ähnlich der Sklaverei! Die Leibeigenschaft wurde erst 1861 abgeschafft. Und auch zu unserer Zeit noch war die soziale Lage der ärmeren Bevölkerungsschichten katastrophal. Die Menschen wohnten in unbeschreiblichen Elendsquartieren, viele hatten nicht einmal ein eigenes Bett. Die berüchtigten Kellerwohnungen wurden regelmäßig vom Hochwasser überschwemmt. Man hätte schon lange an bestimmten Stellen Dämme gegen das Wasser bauen müssen, aber die Regierung verschleppte es immer wieder.
Am 9. Januar 1905 kam es zu einer Massendemonstration für Reformen – Verfassung, Wahlrecht, Achtstundentag. Auslöser waren die sozialen Missstände im Land, die sich nach dem verlorenen Russisch-Japanischen Krieg verschärft hatten. Vor dem Winterpalais, dem Wohnsitz des Zaren, eröffnete die Armee ohne Ankündigung das Feuer auf die friedlichen, eigentlich zarentreuen Demonstranten, weit über 100 Menschen starben. Meine Mutter hätte in diesem Moment am liebsten die Koffer gepackt und wäre mit uns nach Deutschland gefahren. Nach diesem als ›Blutsonntag‹ in die Geschichte eingegangenen Datum kam es zu revolutionsartigen Unruhen, die das ganze Jahr über anhielten. Die Regierung konnte Pressezensur und Versammlungsverbote nicht mehr durchsetzen, sodass große Demonstrationen und Protestversammlungen stattfanden. Erstmals gab es in Russland eine ›kritische Öffentlichkeit‹. Die Schulen wurden geschlossen und das öffentliche Leben durch einen Generalstreik der Arbeiterbewegung lahmgelegt.
Gegen Ende des Jahres wurde der Volksaufstand gewaltsam beendet. Meine Eltern waren einerseits erleichtert, dass die damit verbundene Gefahr vorüber war. Andererseits waren sie, was die politische Zukunft Russlands betraf, sehr unzufrieden. Die dringend nötigen Reformen schienen in weite Ferne gerückt und spätere Wiederholungen revolutionärer Unruhen wohl unvermeidlich.
Auch der Antisemitismus flackerte in diesen Jahren wieder auf, es kam in vielen russischen Städten zu mörderischen Judenpogromen, angeheizt von der Geheimpolizei. Meine Eltern wollten um jeden Preis, dass uns Nachteile im Zusammenhang mit der jüdischen Herkunft unserer Familie erspart blieben.
Meine Mutter war bereits kurz nach ihrer Geburt in Berlin evangelisch getauft worden, mein Vater war bei seiner Übersiedelung nach Petersburg konvertiert. Mit der jüdischen Familienherkunft identifizierten sich meine Eltern in kultureller Hinsicht, und dieses Bewusstsein gaben sie auch an uns weiter. Aber religiös hatten sie mit dem Judentum keine Berührungspunkte mehr. Wir Kinder wurden alle gleich nach der Geburt getauft, allerdings auch das ohne rechte Begeisterung meiner Eltern. Die Umstände waren reichlich kurios, denn es musste jedes Mal in der französisch-reformierten Gemeinde geschehen. Der dortige Pfarrer war der Einzige, der bereit war, konvertierte Juden und deren Angehörige zu taufen – auf Französisch, sodass kaum jemand ein Wort verstand.
Ob die Taufe, unser nicht jüdisch klingender Familienname und unser so gar nicht jüdisch-religiöser Lebensstil ausreichend sein würden, uns vor dem Antisemitismus zu schützen, daran kamen meiner Mutter angesichts der Ereignisse immer neue Zweifel. Sie machte sich Sorgen, dass wir ›zu jüdisch‹ aussehen könnten und freute sich, dass ich als kleines Mädchen blond und blauäugig war – na ja, das gab sich dann später.
Trotz aller düsteren Vorahnungen und politischen Unruhen war unsere Kindheit in St. Petersburg eine herrliche Zeit, die meine Brüder und mich für unser ganzes Leben geprägt hat. Die Erinnerung daran, an die Stimmung in dieser herrlichen Stadt und unser behütetes und inspirierendes Elternhaus hat uns später über vieles getröstet.«
Sonjas Erzählung klingt mir nach drei Jahrzehnten noch gut im Ohr, aber ich bin doch etwas skeptisch gegenüber meiner eigenen Erinnerung und zugleich neugierig darauf, mehr herauszufinden über Personen und Orte der Geschichte.
Da ist zunächst Sonjas Vater Gustav Hackel und seine jüdisch-orthodoxe Familie aus Mitau, heute Jelgava in Lettland. 3Vor meinem inneren Auge stelle ich mir, wenn Sonja von der ärmlichen Herkunft ihres Vaters und der Wanderschaft des Großvaters erzählte 4, ein ostjüdisches Schtetl vor. Im Laufe meiner Recherche muss ich dieses Bild revidieren. Auf alten Aufnahmen Iähnelt Mitau – mit herzoglichem Schloss, humanistischem Gymnasium und baumbestandenem Marktplatz mit klassizistischen Fassaden – eher einer deutschen Provinzstadt. 5
Im Mitauer Adressbuch von 1892 finde ich den Eintrag J. M. Hackel, Große Straße 39. J. M. könnte für Jacob Moses stehen, so hieß Gustavs Vater – vielleicht wurde seine Mutter Leah, geb. Lewiss, noch unter dem Namen ihres (damals bereits lange verstorbenen 6) Mannes geführt? Hier ist diese Spur leider zu Ende. Es müssen außer Gustavs Mutter noch weitere Verwandte in Mitau gelebt haben, denn Flora erwähnt in einem Brief aus dem Jahr 1905: »… haben unseren Neffen aus Mitau zu Besuch, der eben sein Abiturium macht und unsere Jungen während der Sommermonate beschäftigen soll.« Dies muss ein Sohn von Gustavs einziger Schwester sein, denn seine drei Brüder lebten alle inzwischen in St. Petersburg. Leider wird sein Name nicht angegeben, wie auch von Gustavs Schwester in den Familienannalen weder Name 7noch Geburtsdatum je erwähnt werden II. All dies sind wohl Indizien, dass die Beziehung nach Mitau nicht allzu eng war, wenn nicht sogar von bewusster Distanz geprägt. Ich erinnere mich nicht, dass Sonja je erzählt hätte, sie sei in Mitau gewesen, noch findet sich in Floras umfangreichen Aufzeichnung irgendein Hinweis darauf. Vielleicht ist hier ein – damals unter assimilierten Juden durchaus verbreitetes – Verhaltensmuster erkennbar, die als rückständig empfundenen Wurzeln abzustreifen. III
Auch über die von Sonja – dann doch mit etwas Stolz – erwähnten Vorfahren der Hackels, die Rabbiner wurden, kann ich nichts Gesichertes herausfinden. Offenbar muss diese Tradition bereits mindestens zwei Generationen zurückgelegen haben. 8 IVGustav und seine Geschwister wuchsen jedenfalls bereits in einem Milieu auf, das stark von bürgerlich-weltlichen Einflüssen geprägt war. Seine drei jüngeren Brüder machten alle am Mitauer Gymnasium Abitur. Die beiden jüngeren, Ludwig und Arthur 9, besuchten jeweils für ein Jahr die Universität in Dorpat und eröffneten 1895 in St. Petersburg gemeinsam eine Apotheke. VJeannot VI, der zweitälteste, schloss in Dorpat ein Medizinstudium ab und wurde Arzt, ebenfalls in Petersburg. 10Seine 1891 abgeschlossene Doktorarbeit ›Ein Beitrag zum Erhängungs- und Erstickungstode im engern Sinn‹ finde ich in der Staatsbibliothek Berlin. Die Universität Dorpat war die einzige deutschsprachige Universität im zaristischen Russland. Die Beibehaltung von Deutsch als Lehrsprache gehörte zu den Privilegien, die Russland den Provinzen Kurland und Livland gewährt hatte, als diese Teil des russischen Reiches wurden. In den 1880er-Jahren fand eine umfangreiche Russifizierung statt, von der die auf Deutsch abgefasste Dissertation von Jeannot Hackel jedoch noch nicht betroffen gewesen zu sein scheint. Auf dem Vorblatt steht: ›Meinem Vetter Doctor Edward Lewiss aus Petersburg in Liebe und Dankbarkeit gewidmet.‹ Wahrscheinlich hatte dieser Verwandte mütterlicherseits ihn während seiner Ausbildung finanziell unterstützt. Offenbar beruhte dies auf einer umfassenderen Abmachung der Familien Lewiss und Hackel. Flora berichtet in ihren Erinnerungen, Gustav habe ihre Mitgift benötigt, um seinem Bruder Jeannot die ›Kaltwasserheilanstalt von Dr. Lewiss‹ zu kaufen.
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