An dem vereinbarten Abend ›nach acht‹ empfingen mich also Sonja und Heinz. Beide waren – mit ihren über 80 Jahren – quicklebendig. Heinz neben Sonja groß und aufrecht, mit schlohweißen Haaren und einem eleganten Schnurrbart, ähnlich dem von Clark Gable. Sonja ganz klein und rund, mit unglaublich vielen Falten im Gesicht, einer beeindruckend geschwungenen Nase und noch fast schwarzen, leicht gelockten Haaren, die von einem altmodischen Haarnetz festgehalten wurden. Ich bekam einen Platz auf dem Sofa im Wohnzimmer, das in einer geschmackvollen Mischung aus dunklen (wie ich später erfuhr, südafrikanischen) und modernen hellen Holzmöbeln eingerichtet war. Heinz hatte Tee gekocht, der in russischen Teegläsern serviert wurde. Das war ein beeindruckendes Ritual, das ich noch oft erleben durfte. Im Laufe des Abends kam von Sonja mehrmals die Frage: »Darling, gibt es noch Tee?«, eigentlich sagte sie »Daarrlink«, und bei »Tee« hob sie die Stimme. Und selbstverständlich war Heinz als echter Gentleman gleich damit zur Stelle.
Kaum saß ich auf dem Sofa, begann das Erzählen. Beider Augen blitzten, und man merkte sofort, dass sie daran großes Vergnügen hatten. Sonja und Heinz staunten selbst ganz offen darüber, wie viel abenteuerliche und teils absonderliche Dinge sie erlebt hatten. Sie sagten dann oft:
»Man sollte kaum glauben, dass so viel Weltgeschichte in ein Menschenleben hineinpasst!«
Bemerkenswert war, dass trotz manch tragischer Episode die Erzählung zwar zuweilen ernst wurde, aber insgesamt positiv und heiter blieb. Sonjas schwermütige Seite lernte ich später auch kennen, aber die Abende des abwechselnden Erzählens mit Heinz verliefen mit anekdotenhafter Leichtigkeit, und es wurde viel dabei gelacht. Den großen Faden der Erzählung bestritt stets Sonja, Heinz schaltete sich mit einzelnen Ergänzungen ein.
Bei unserem ersten Treffen fragte Sonja mich, was ich denn wissen wolle. Ich sagte mein Sprüchlein von der Oktoberrevolution und dass ich gehört hätte, sie habe diese in St. Petersburg miterlebt …
Sonja begann.
»Ja, darüber kann ich dir gern etwas erzählen. Aber, nu ja …! Du musst wissen, dass dies nur eine kleine Episode in einer sehr langen und komplizierten Familiengeschichte ist, die unzählige weltgeschichtliche Ereignisse des 20. Jahrhunderts berührt« – sie lachte und ihre Augen funkelten, und Heinz nickte bestätigend. »Und ich muss dir dazu sagen, dass meine Familie nicht im engeren Sinne als russische Familie bezeichnet werden kann. Erst meine Eltern sind nach St. Petersburg gezogen. Meine Mutter stammte aus Berlin, mein Vater aus dem Baltikum. Also, wenn du trotz dieser Einschränkung die Geschichte hören möchtest, erzähle ich sie dir gern – oder fragen wir mal so: welchen Teil der Geschichte möchtest du hören? Alles? Na – hab’s mir gedacht! Dann müssen wir mal sehen, wo wir am besten anfangen, für einen Abend ist das viel zu viel …
Meine Familie hat einen jüdischen Ursprung, und das sagt ja schon so einiges. Wir waren nicht religiös, ich bin’s auch heute nicht. Aber diese Herkunft hat das Schicksal vieler Generationen meiner Familie bestimmt, egal ob sie, wie vor einigen Generationen, noch gläubige Juden oder, wie meine Eltern, teils die Großeltern schon, zum Christentum konvertiert waren – meist aus äußerer Notwendigkeit. Immer hat sie das Jüdische wieder eingeholt. Na ja, ich denke, du weißt darüber Bescheid, das muss ich nicht alles erzählen. Und in meinem Leben, wie auch bei Heinz, hat sich das so fortgesetzt. Ich musste in meinem Leben drei Mal emigrieren: zuerst von Russland nach Deutschland, das war 1918. Dann, als die Nazis kamen, musste ich mit Peter, meinem ersten Mann, aus Berlin fort. Wir konnten 1934 nach Südafrika gehen. In Johannesburg lebten wir ganz gut, unsere Kinder kamen dort zur Welt. Aber Peter starb schon 1951, mit nur 44 Jahren. Das war für mich eine schwere Zeit. Die Kinder waren noch klein. Später lernte ich Heinz kennen, das heißt, ich kannte ihn schon lange, unsere Familien waren in Südafrika eng befreundet. Als er mir einen Heiratsantrag machte, war er dabei, sich wieder in Europa niederzulassen – die Situation in Südafrika wurde brenzlig. Und so bin ich zum dritten Mal emigriert und mit ihm nach Bonn gekommen.«
Jetzt schaltete sich Heinz ein, verschmitzt lachend.
»Auf drei Emigrationen bringe ich es nicht, bei mir waren es nur zwei. Ich bin in Berlin aufgewachsen, und musste in der Nazizeit dann auch sehen, wie ich aus Deutschland rauskomme. Unsere Familie war vor ein paar Generationen jüdisch gewesen, aber meine Vorfahren waren konvertiert. Ich fühlte mich überhaupt nicht als Jude, aber für die Nazis war ich das plötzlich. Für mich begannen die Probleme nicht so früh, wie es bei Peter der Fall war, denn ich arbeitete in einem Unternehmen, das Verwandten meiner Mutter gehörte. Die Kaffeerösterei Zuntz war das, damals eine bekannte Firma. Auch nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren, konnte ich dort relativ unbehelligt arbeiten. Ich muss sagen, ich habe die Nazis zuerst unterschätzt – das haben viele. Als es irgendwann höchste Zeit wurde zu gehen, waren die meisten Länder nicht mehr bereit, Flüchtlinge aus Deutschland aufzunehmen. Ich war schon verheiratet und hatte kleine Kinder. Gerettet hat uns Peter, Sonjas erster Mann. Er hat für uns finanziell gebürgt. So kamen wir 1936, kurz bevor es zu spät war, auch nach Südafrika. Im Krieg habe ich mich freiwillig zur britischen Armee gemeldet, um etwas gegen Hitler tun zu können.
Ende der 50er-Jahre, in Südafrika regierte inzwischen die Nationalpartei und die Apartheid-Politik hatte begonnen, bekam ich zunehmend politische Schwierigkeiten. Nach der Erfahrung mit den Nazis dachte ich mir, es ist besser du gehst jetzt, bevor es wieder zu spät ist – daraus wurde die zweite Emigration. Ich erhielt die Möglichkeit, eine Stelle in Deutschland anzunehmen. Über ein paar Umwege kam ich 1961 nach Bonn, und kurze Zeit später entschloss sich Sonja, mir hierher zu folgen und meine Frau zu werden.«
Dann ergriff wieder Sonja das Wort. »Und nun leben wir schon 25 Jahre hier. Das ist länger als ich in Petersburg, Berlin oder Johannesburg gewohnt habe. Wir haben uns hier immer sehr wohlgefühlt. Aber wenn du mich fragst, wo meine Heimat ist, dann muss ich dir sagen: Ich weiß es nicht! Meine Kinder und anderen Verwandten sind überall auf der Welt verstreut, in Südafrika, Israel, den USA, England, der Schweiz … Bei Heinz ist es genauso. Diese Emigrationen werden ein Stück von dir.«
Heinz ergänzte, »aber was man auch lernt, ist Dankbarkeit. Wir wären nicht mehr da, wenn es nicht immer wieder Menschen gegeben hätte, die uns geholfen haben.«
Sonja stimmte zu: »Ja, dafür sind wir sehr dankbar! Auf unserer Flucht aus Russland hat ein Offizier seine Kompetenzen überschritten und einen Passierschein – auf Russisch sagt man dazu Propusk – ausgestellt. Wer weiß, was sonst geworden wäre. Man macht sich nicht klar, welche Rolle das spielen kann! Immer wieder gab es solche Menschen in unserem Leben. Um etwas zurückzugeben von der Hilfe, die wir erfahren haben, setzen wir uns für politische Gefangene in Ländern ein, in denen Menschenrechte nicht geachtet werden. Wir haben eine der ersten Amnesty-International-Gruppen in Deutschland gegründet.«
Sonja und Heinz, wie sie in den 1980er-Jahren ihre Geschichte erzählten
Die ›ganze Geschichte‹ war in der Tat für einen Abend zu lang. Mit meinem ersten Besuch begann eine wunderbare Freundschaft, die bis zum Lebensende von Sonja und Heinz bestand. Alle paar Wochen trafen wir uns abends ›nach acht‹, der Rahmen war immer derselbe. Der Reihe nach bekam ich nun ›die ganze Geschichte‹ zu hören.
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