„Klar, das weiß ich alles, aber ist es nicht besser, dass die Heteros dabei sein wollen? Statt uns Freaks zu nennen und Gegendemonstrationen zu veranstalten?“, sagt Kim und gestikuliert zu all den Zuschauern, die Fähnchen schwenkend zurücklächeln.
„Ach komm, Kim, so naiv kannst du doch nicht sein. Wir sollten schon längst viel weiter sein. Vergessen wir den Kampf und sagen wir, dass man Kategorien wie Schwule und Lesben nicht mehr braucht und dass es beim Pride darum geht, dass die Liebe von allen die Diskriminierungen unsichtbar macht. Verschwinden tut sie nicht. Es geht noch immer um unsere Liebe und unsere Leben. Die Liebe und das Leben, die ständig unterdrückt und ignoriert werden.“
„Jaja, ihr höre dich. Ich versuche nur, das Schöne am Leben zu sehen. Und ich persönlich mag es, wenn Klamottenläden Prideflaggen und sowas haben. Mehr queere Kleider, die wir kaufen können!“
Kim klopft Maja auf die Schulter und geht nach vorne, um mit ihrer Partnerin zu reden. Maja seufzt und sieht zu Boden. Die Quasten an ihren Brustwarzen ziehen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie sind das einzige, was sie am Oberkörper trägt, von ihrem Rucksack abgesehen. Es ist ein bisschen kalt, aber sie genießt den Schock in den Augen aller prüden Zuschauer. Mit der Netzstrumpfhose, dem Latexrock und den hohen Schuhen ist sie ein Dorn im Auge von all jenen, die finden, dass man sich anständig anziehen und benehmen soll. Nicht mit allen möglichen schlafen, monogam sein und sich dem Patriarchat unterwerfen. Majas Körper ist nicht klein und schmal mit kleinen Brüsten, deren Nacktheit man übergehen könnte. Sie ist füllig und ihre großen Brüste provozieren, sobald sie den kleinsten Ausschnitt trägt. Sie werden als übersexuell und vulgär angesehen. Viele Jahre trug sie nur hochgeschlossene Pullis, um niemanden in Verlegenheit zu bringen. Aber damit ist jetzt Schluss. Riot not diet hat sie über ihre linke Brustwarze tätowiert. Sie denkt nicht daran, sich weiterhin für ihren Körper zu schämen. Es kribbelt im Körper und zieht ihren Magen zusammen, wenn sie so unbekleidet herumgeht. Sie sehnt sich nach dem Abend, an dem sie an sich herumspielen wird und die sexuelle Intensität, die sich in ihrem Körper durch die feiernde Menschenmenge aufgebaut hat, wieder abbauen kann.
Als sie von ihren hüpfenden Nippeln aufsieht, kann sie Anna, Kim oder die anderen nicht mehr sehen. Stattdessen, als bräuchte es einen konkreten Beweis dafür, dass sie tatsächlich provoziert, sieht sie in die Augen eines Mannes, der etwas weiter vorn der Parade zuschaut. Ihr Herz beginnt zu schlagen. Sie kann den Hass in seinen Augen sehen. Sie hat Angst, aber erinnert sich daran, dass sie von Menschen, ihren Menschen umgeben ist. Als sie an ihm vorbeigeht, hört sie ein Räuspern und kurz danach spürt sie seine Spucke in ihrem Nacken. Schockiert dreht sie sich um und hört ihn rufen:
„Verdammte Nutte!“
Maja reagiert instinktiv und wirft sich auf ihn, weiß kaum, was ihr Körper vorhat. Ihre Hände sind erhoben und sie sieht rot, fühlt das Blut durch ihre Adern rauschen und eine bodenlose Wut in sich hochkochen.
Da greift sie jemand von hinten, hält sie fest. Die Person wischt ihr die Spucke mit dem Uniformärmel ab. Uniform … die Polizei behindert mich , denkt sie und ihre Wut wird noch stärker.
„Lass mich los!“, schreit Maja zur Person, die sie festhält.
„Ruhig, ich wollte nur eine Schlägerei verhindern“, sagt der Polizist mit dunkler, ruhiger Stimme.
Maja dreht sich um und steht Auge in Auge mit einem Polizisten, beziehungsweise würde sie das, wenn die nicht sehr viel größer wäre. Sie fuchtelt vor ihm mit dem Finger rum. „Du kannst mich nicht einfach festhalten, das solltest du wissen. Du bist ein Typ und Polizist, auch wenn du schwul bist, ist das nicht okay. Erzähl mir nicht, dass ich mich beruhigen soll, du hast mich festgehalten!“
„Beruhige dich mal!“ Der Polizist lässt Maja los, tritt einen Schritt zurück und hält die Hände hoch, um zu zeigen, dass nichts passieren wird.
„Du musst begreifen, dass es nicht okay von dir ist, mich festzuhalten. Pride hat als Gegendemonstration gegen die Polizeikräfte angefangen. Lernt ihr was über Stonewall bei der Polizeiausbildung?“ Majas Gesicht ist rot und ihr Körper zittert vom Adrenalin. Sie schreit den Polizisten an, obwohl sie friedlich voreinander stehen. Im Hintergrund hat der Zug gerade angehalten und sie sieht, wie der Mann, der sie bespuckt hat, zu einem Polizeiauto geführt wird.
Der Polizist nimmt langsam die Sonnenbrille ab und sieht sie ruhig an.
„Zuerst mal … ich bin lesbisch, nicht schwul. Du solltest auf deinem hohen Ross vielleicht nicht so schnell mit deinen Urteilen über das Geschlecht und die Sexualität von deinen Mitmenschen sein. Ich kenne unsere Geschichte, ich glaube an die Veränderung von innen und arbeite aktiv dafür. Was machst du?“
Die Stimme der Polizistin ist kaum ein Flüstern, aber Maja hört sie überdeutlich. In dem Moment, als sie versteht, dass die Polizistin eine Butch ist, und eine sehr heiße, sind all ihre Sinne geschärft. Ihre Nackenhaare stellen sich auf und sie bekommt eine Gänsehaut. Maja steht so nah bei ihr, dass sie sie riechen kann. Sie ist von der rohen sexuellen Kraft, die die Polizistin ausstrahlt, wie hypnotisiert. Alle Argumente und Gedanken sind wie weggeblasen, stattdessen sieht sie nur das Bild dieser sexy Frau, nackt vor ihr kniend … Maja schüttelt den Kopf und erlangt ihre Fassung zurück. Diesmal sagt sie ruhig. „Ihr habt meinen Freund misshandelt, weil er schwul und schwarz ist. Letzten Monat. So viel zur Veränderung.“
„Habe ich das getan?“
„Nein … beziehungsweise weiß ich das ja nicht, aber es waren zwei Polizisten!“
„Und dann sind deiner Meinung nach alle Polizisten verantwortlich?“
„Die Polizei hat sie beschützt, sie haben ihre Jobs behalten und sind noch immer im Dienst.“ Maja sieht zu den anderen Polizisten in der Parade, die sich mit den Zuschauern unterhalten, winken und weiter zur Musik in ihrem Block tanzen. Diskomusik, deren Melodie und Text es nicht in Majas Bewusstsein schaffen, weil sie in der aktuellen Situation zu unwichtig sind.
„Keine Organisation ist perfekt und es gibt noch viel, woran man arbeiten muss. Was glaubst du, was es bringt, uns anzuschreien? Die Polizei ist wichtig für die Gesellschaft.“ Die Polizistin legt die Hände auf die Hüften, scheint sich aber umzuentscheiden und faltet sie stattdessen vor sich. Maja nimmt an, dass das so freundlich wie möglich aussehen soll. Sie holt tief Luft und fährt in normalem Gesprächston fort. Sie ist sich bewusst, dass die Polizistin ihr nicht zuhört, wenn sie ihre Argumente herausschreit.
„Die Polizei schützt Nazis, wenn sie demonstrieren, behauptet, das sei Meinungsfreiheit und greift stattdessen die Gegendemonstranten an. Obwohl es die Nazis sind, deren Ideologie auf Hass aufbaut und darauf, andere Gruppen auszurotten. Trotzdem schützt ihr sie vor uns. Erzählt uns, dass wir weggehen sollen, obwohl wir diejenigen sind, die angegriffen werden.“
Der Zug steht noch immer still, die Party ist voll im Gange, aber die Menschen um sie herum sehen unsicher aus, schwenken ihre Flaggen weniger enthusiastisch und scheinen sich allgemein darüber einig zu sein, sich nicht einmischen zu wollen.
„Ich weiß, dass das merkwürdig erscheinen kann, aber die Gesellschaft ist auf der freien Meinungsäußerung und dem Recht auf Demonstration aufgebaut. Ich bin nicht gern in solchen Situationen, aber wir kriegen unsere Befehle und müssen ihnen folgen. Wir schützen sie, weil sie weniger sind als die Gegendemonstranten, die normalerweise kommen. Wir wollen Schlägereien und Gewalt auf die beste Weise verhindern. Und wenn dir oder jemand anderem nahegelegt wird zu gehen, dann ist das deswegen, weil es die beste Art ist, um mehr Schlägereien zu vermeiden. Man muss logisch denken und sich nicht auf eine Seite schlagen.“ Die Polizistin versucht zu vermitteln und spricht mit einer Stimme, die in einen Hörsaal passen würde. Eine Stimme, die trotz des vermittelnden Inhalts Majas Bauch kribbeln lässt. Und ihre Muschi pulsieren.
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