Gerade die Entwicklung der evidence-basierten Medizin hat für einen »Quantensprung« in den Entscheidungsprozessen in der Gesundheitsversorgung gesorgt. EbM war und ist ein essenzieller Fortschrittsgenerator in der Medizin (Berchthold et al. 2005). In der Folge hat sich auch die gesetzliche Krankenversicherung daran orientiert. So gilt bis heute der wissenschaftliche Standard zur Bestimmung des allgemein anerkannten Erkenntnisstandes in den Disziplinen als Handlungsgrundlage (Roters 2012).
Begriffsbestimmung mit vier Merkmalen 
In der pflegewissenschaftlichen Literatur werden verschiedene Begriffe für das Konzept der evidence-basierten Pflegepraxis verwendet. Es finden die Bezeichnungen Evidence-based Care (EBC), Evidence-based Practice (EBP) und Evidence-based Nursing (EBN) sowie Evidence-based Nursing and Caring Verwendung (Smoliner et al. 2008, S. 288). Dabei werden die Begriffe EBN und EBP meist synonym verwendet. Die einzelnen Begriffsbeschreibungen stimmen darin überein, dass mit dem Konzept ein Entscheidungs- und Problemlösungsprozess assoziiert und die Komponente von Forschung für die klinische Entscheidungsfindung formuliert ist. Scott und McSherry (2008) haben 13 Begriffsbestimmungen in wissenschaftlichen Publikationen von EBN und EBP anhand der inhaltlichen Merkmale, Schlüsselelemente und Hauptaussagen miteinander verglichen. Dabei stellten sie fest, dass elf Schlüsselelemente identisch waren. Alle Definitionen beinhalteten das derzeit beste Wissen aus der Forschung als Wert für die Praxis im Rahmen klinischer Entscheidungsfindungen. Die Konzepte unterscheiden sich dahingehend, dass EBN den Einbezug der Patient*innen in der Umsetzung stärker fokussiert. Sie kommen zu dem Ergebnis:
»EBN could be defined as ›an ongoing process by which evidence, nursing theory and the practitioners‹ clinical expertise are critically evaluated and considered, in conjunction with patient involvement to provide delivery of optimum nursing care for the individual« (Scott & McSherry 2008).
Eine von allen getragene Definition von Evidence-based Nursing gibt es nicht und ist im wissenschaftlichen Diskurs auch nicht erforderlich (Kleibel & Smoliner 2012, S. 27).
1.1.3 Drei Konzepte des Evidence-based Nursing
EBN als Konzept mit drei einzelnen Konzepten 
Das EBN-Konzept setzt sich aus drei Teilkonzepten zusammen, die mit dem gleichen Begriff beschrieben werden, verschiedene Schwerpunkte beinhalten und gemeinsam das EBN-Konzept bilden (Panfil 2005, S. 458). Die drei einzelnen Konzepte sind in Anlehnung an Panfil (2005):
a) Zusammenwirken der »Akteure«
b) Pädagogisches Konzept
c) Externe Evidence.
a) Zusammenwirken der »Akteure«
Das Zusammenwirken der beteiligten Akteure bezieht sich auf die klinische Entscheidungsfindung. Es bezeichnet die Beteiligung der betroffenen Pflegeempfänger*innen oder ihrer Angehörigen, der verschiedenen beteiligten Berufsgruppen als auch der Pflegenden. Zudem beinhaltet das Teilkonzept die Integration von auf Forschung beruhender Evidence – diese wird als externe Evidence verstanden (
Kap. 2.3
) – und den Einbezug der klinischen Expertise – dies wird als interne Evidence verstanden (
Kap. 2.3
) – und den Wünschen und Bedarfen der Pflegeempfänger*innen zu ihrer individuellen Gesundheitsversorgung (Panfil 2005).
Beispielsweise kann es sein, dass eine Bewohnerin einer Langzeitpflegeeinrichtung in der Nacht gestürzt ist. Die Pflegeperson führt mit der Betroffenen ein Gespräch über die vermuteten Ursachen, die aktuellen Probleme und die Dinge, die der Bewohnerin nach dem Sturz wichtig sind. Die Bewohnerin berichtet, dass sie gestürzt ist, weil sie sehr schnell zur Toilette musste und auf dem Weg dorthin über ihre Füße gestolpert ist. Nun hat sie Angst, erneut zu stürzen. Die Pflegende sucht nun nach Ursachen und Lösungen und recherchiert dazu in den Datenbanken. Eine Ursache könnte das neu verordnete Schleifendiuretikum sein, was erstmalig am Abend zuvor verabreicht wurde. Eine weitere Ursache könnte das verordnete Schlafmittel für die Nacht sein. Die Pflegende trifft eine Auswahl geeigneter Maßnahmen und bespricht diese mit den beteiligten Akteur*innen, z. B. der Hausärztin. Nach einer Besprechung der Medikamente durch die beiden Berufsgruppen wird mit der Bewohnerin die vereinbarte Maßnahme besprochen, die Bewohnerin wird beraten und die Maßnahme wird mit Zustimmung umgesetzt. Die Pflegende prüft im Verlauf, ob die Ergebnisse den Erwartungen entsprechen.
Das zweite Konzept beschreibt pädagogische Inhalte, die auf ein lebenslanges Lernen zielen. Das Teilkonzept fußt auf der Methode des problembasierten Lernens. Hier ist der Bezug zur Entwicklung des EbM-Konzeptes durch Sackett und Kollegen erkennbar (
Kap. 1.2), das ursprünglich für die Ausbildung von Studierenden entwickelt wurde und das das klinisch Tätigsein mit dem Lernen zur Problemlösung miteinander verbindet. Ausgangspunkt ist idealtypischerweise ein konkreter Fall oder eine Praxissituation. Fünf aufeinander aufbauende Arbeitsschritte umfasst das Konzept: 1.) Frage, 2.) Literaturrecherche, 3.) Kritische Bewertung der Evidence, 4.) Entscheidung über passende Interventionen, Anwendung und 5.) Evaluation (Panfil 2005; Brinker-Meyendriesch 2003). Das Lernen innerhalb des pädagogischen Konzepts entspricht der beruflichen Handlungslogik und verknüpft die Fallarbeit mit beruflichen Situationen. In der Folge können Arbeitsroutinen überdacht, Handlungspläne entworfen und Lösungsoptionen identifiziert werden (Schneider 2008). Auf diese Weise können den Lernenden bedeutsame Erkenntnismöglichkeiten geschaffen werden, können Forschungsergebnisse problemorientiert in die Praxis transferiert werden, schließlich können praktisches und theoretisches Wissen miteinander verknüpft werden (Schneider 2008).
Dieses Teilkonzept gilt als das am häufigsten verwendete (Panfil 2005; Schneider 2008). Externe Evidence wird im Sinne der »wissenschaftlichen Belegbarkeit« von Interventionen durch Forschungsarbeiten verwendet. Wissenschaftlich belegtes Wissen findet sich beispielsweise in Expertenstandards, Leitlinien oder systematischen Übersichtsarbeiten, wie sie die Cochrane Library zur Verfügung stellt. Grundlage der externen Evidence bilden Forschungsarbeiten. Diese werden mit verschiedenen Methoden auf ihre wissenschaftliche Aussagekraft und auf ihre mögliche Übertragung auf den Einzelfall bewertet (
Kap. 2.3
) (Panfil 2005).
Die überwiegende Kritik von Pflegewissenschaftler*innen bezieht sich auf ein ausschließliches Verständnis von EBN als Nutzung externer Evidence. Wird das EBN-Gesamtkonzept lediglich auf das Teilkonzept der externen Evidence reduziert und werden zentrale Aspekte wie der Einbezug der Präferenzen der Pflegeempfänger*innen ausgeblendet, wird dies der Methode nicht gerecht (Schneider 2008).
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