1 ...6 7 8 10 11 12 ...24 Die Nervenzellen entwickeln sich in unterscheidbaren Entwicklungsschüben. Die Entstehung der Nervenzellen (Neurogenese) setzt in der dritten Schwangerschaftswoche ein, erreicht ihren Höhepunkt in der siebten Schwangerschaftswoche und ist nach 18 Wochen weitgehend abgeschlossen. Man mache sich klar: Da danach so gut wie keine Nervenzelle neu entsteht, besitzt der Embryo bereits alle Nervenzellen, die der 70-jährige Erwachsene später aufweist. Die Geschwindigkeit der Neurogenese ist atemberaubend. Im Durchschnitt werden in der Embryonalphase eine halbe Million Nervenzellen pro Minute gebildet.
Migration
Eine zweite Phase wird als „ Migration“ bezeichnet: Darunter verstehen wir den Prozess, in dem Nervenzellen an den Ort ihrer Bestimmung wandern und somit erste, basale Hirnstrukturen bilden. Dieser, ebenfalls pränatale Prozess ist weitgehend genetisch gesteuert und biochemisch getriggert. Nervenwachstumsfaktoren und Oberflächensubstanzen des Gewebes weisen den Nervenzellen den Weg. Folglich können nicht nur genetische Fehlinformationen (mitunter reicht die mangelhafte Synthese eines einzigen Proteins), sondern auch toxische Einflüsse während der Schwangerschaft diesen Prozess erschweren. Wenn man also angesichts unterschiedlicher Behinderungen und psychischer Erkrankungen von einer „Vulnerabilität“ spricht, meint man in vorgeburtlicher Hinsicht ein mögliches Zusammenwirken genetischer sowie intrauterin-milieubedingter Störungen.
Synaptogenese
Um die Mitte der Schwangerschaft haben die meisten Nervenzellen ihre endgültige Position erreicht, und sämtliche wichtigen Hirnstrukturen sind entstanden. Sie können allerdings größtenteils noch nicht ihre Funktion aufnehmen, da sie nur sehr wenige Verbindungen zueinander haben. Das ändert sich mit der beginnenden Synaptogenese, der Bildung der Verschaltung der Nervenzellen untereinander, die sehr viel länger dauert als die bisher beschriebenen Phänomene der Neurogenese und Migration. Wie in Kap. 1.1bereits gesagt, kann jede einzelne Nervenzelle bis zu 10.000 synaptische Verbindungen zu anderen Nervenzellen aufnehmen. Diese „Verdrahtung“ dauert die gesamte zweite Hälfte der Schwangerschaft und einen großen Teil des ersten extrauterinen Lebensjahres an. Viele Prozesse reichen bis in das zweite Lebensjahr, und letztendlich ist die gesamte Kindheit und Pubertät, ja das gesamte menschliche Leben von Lernerfahrungen und den damit verbundenen neu entstehenden Synapsen gekennzeichnet.
Myelinisierung
Bevor wir auf die Zusammenhänge zwischen Lernprozess und Synaptogenese noch etwas näher eingehen, soll noch auf den letzten Schritt der Hirnreifung, die Myelinisierung, eingegangen werden: Wie wir in Kap. 1.1gesehen haben, werden die Axone von markhaltigen Stützzellen umwickelt, was als „Myelinisierung“ bezeichnet wird und nicht zuletzt die Erregungsweiterleitung wesentlich verbessert. Eine abgeschlossene Myelinisierung ist also mit einer endgültigen Reifung des Nervensystems gleichzusetzen. Es fällt auf, dass bei der Geburt hauptsächlich und wesentlich Stammhirn- und z. T. Zwischenhirnstrukturen diesen Myelinisierungsprozess aufweisen. Das Kleinhirn und insbesondere das Großhirn hingegen myelinisieren weitestgehend nicht, sind also unreif. Damit kommen wir neben den genetisch festgelegten Entwicklungsbahnen des Gehirns zum zweiten wesentlichen Phänomen der kindlichen Hirnentwicklung – der Plastizität und Prägbarkeit dieses Organs.
Entwicklung nach der Geburt
Hirnreifung1. Lebensjahr
Das Neugeborene kommt mit einem proportional großen Kopf auf die Welt, was die Geburt für Mutter wie Kind zu einem mühseligen Unterfangen macht. Es braucht aber hinsichtlich der Reifung basaler Fähigkeiten noch fast ein volles extrauterines Jahr, weswegen der Mensch von Portman als „pyhsiologische Frühgeburt“ apostrophiert wird. Die relative Unreife des menschlichen Gehirns (im Vergleich zu seinen nächsten tierischen Verwandten) ermöglicht andererseits eine hohe Plastizität und Prägbarkeit dieses Organs durch peristatische, also umweltbedingte, Einflüsse. Darin dürfte wohl auch der evolutionäre Sinn dieses Geschehens liegen.
Motorik
Bei der Geburt sind vor allem die lebenswichtigen Stammhirnfunktionen voll ausgereift: Sie ermöglichen das Atmen, die Regulierung der Kreislauffunktionen und des Darmhaushaltes (jedenfalls in gewissen Grenzen, weswegen Säuglinge einer besonderen Pflege bedürfen), der Reaktion auf Hungergefühle sowie zahlreiche motorische Automatismen: Bei Berühren der Wange wird beispielsweise der Mund dem taktilen Reiz zugewandt, woraufhin das Kind zu saugen beginnt – gleichgültig ob es sich um die mütterliche Brust oder den väterlichen Finger handelt. Zweifellos ist dieser Saugreflex überlebensnotwendig. Andere im Stamm- und Zwischenhirn verankerte motorische Programme, die ebenfalls ausgereift sind, werden in Kap. 6, das sich mit der Motorik befasst, näher beschrieben.
Andererseits ist, wie bekannt, das motorische Repertoire des Säuglings durch Massenbewegungen und basale, archaische Reflexe geprägt. In einem über ein Jahr dauernden Entwicklungsprozess reifen die motorischen Strukturen des Gehirns (vor allem des Kleinhirns und der motorischen Großhirnrinde) dergestalt heran, dass hinsichtlich der Grobmotorik das Kind über das Krabbeln, Robben und Aufrichten zum freien Laufen gelangt. Analog kann die Feinmotorik von den primitiven Haltereflexen über das Fäusteln und die Mund-Hand-Koordination zum Pinzettengriff fortschreiten. Dies alles ist genetisch festgelegt – einem gesunden Kind braucht nicht beigebracht zu werden, wie man läuft oder greift. Es erlernt dies von alleine, sofern es in diesem natürlichen Entwicklungsprozess nicht behindert wird.
Sehen
In weiten Teilen verläuft auch die Sehentwicklung ähnlich, doch gibt es hier bereits erste Unterschiede, auf die einzugehen an dieser Stelle wichtig ist: Wie in Kap. 5 noch näher zu zeigen ist, sind die Augen des Neugeborenen zwar voll entwickelt, seine Netzhaut und vor allem seine visuelle Hirnrinde hingegen sind noch relativ unreif und reifen in den ersten sechs Monaten nach. Was ein Kind erkennt, hängt maßgeblich von der Reife seiner Hirnrinde ab. Die allerdings reift in Auseinandersetzung mit der visuellen Umwelt, also den optischen Reizen, die dem Säugling angeboten werden. Ist beispielsweise ein Auge sehgeschädigt, so kann es geschehen, dass die Hirnrinde vorrangig die Sehinformationen des „stärkeren“ (bzw. gesunden) Auges verarbeitet. Die für das kontralaterale Auge zuständigen Areale verkümmern also oder treten in den Dienst des „gesunden“ Auges. Die Folge kann im harmlosen Fall ein Verlust des räumlichen, biokularen Sehens sein. Im Extremfall ist aber auch eine „Erblindung“ möglich, und zwar selbst dann, wenn das Auge später z. B. durch Operationen geheilt wird – die notwendigen Hirnareale sind nicht rechtzeitig angelegt worden.
Entwicklungs-fenster
Offensichtlich gibt es „Entwicklungsfenster“, in denen sich unwiderruflich entscheidet, was unser Gehirn wahrzunehmen und zu verarbeiten in der Lage ist. Dies zeigt sich auch bei der Sprachentwicklung. Einerseits hat jedes gesunde Kind die Fähigkeit, prinzipiell eine jede auf Erden gesprochene Sprache zu erlernen. Die bei zunehmender Reifung der dafür vorgesehenen Hirnzentren entstehenden „Sprachmodule“ und ihre Vernetzungen ermöglichen es dem Säugling in einer wohl definierten, zeitlichen Reihenfolge, zunächst Objekte sprachlich zu kodieren (und somit zum Einwort-Satz zu kommen). Mit der Reifung weiterer Hirnareale können auch Handlungen kodiert werden, was Verben, ihre Flexion und die Grammatik in die Welt bringt. Auch diese Entwicklung wird an anderer Stelle, nämlich in Kap. 7, näher beschrieben. Wichtig ist nun, dass eine genetisch festgelegte Reifung der dafür notwendigen Hirnareale dazu führt, dass im Normalfall jedes Kind seine Muttersprache ohne große Probleme erlernt, und zwar im Dialekt seiner Umgebung. Dies ist allerdings nur innerhalb der ersten drei bis vier Jahre problemlos möglich. Kinder, die in dieser Zeit sprachlich depriviert werden, haben extreme Schwierigkeiten, diese Defizite nachzuholen. Bei völliger Isolation kann der Spracherwerb sogar unmöglich sein.
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