Evolutionsmedizin
In ihrem lesenswerten und gut verständlichen Lehrbuch gehen die Ärzte und Evolutionsbiologen Nesse und Williams (2000) der Frage nach, warum wir krank werden. Aus evolutionsmedizinischer Sicht werden hier genannt:
a)Abwehr- und Verteidigungsmechanismen: Husten, Schnupfen, Fieber u. a. m. sind demzufolge keine krankhaften und möglichst zu behandelnden Symptome, sondern vielleicht sinnvolle Möglichkeiten, mit denen Keime bekämpft oder nach draußen befördert werden. Bei der normalen Grippe kann die Erhöhung der Körpertemperatur durch ein Bad oder einen Saunagang möglicherweise zu einem vermehrten Absterben von Krankheitserregern führen und den Heilungsprozess beschleunigen. Unter solchen Gesichtspunkten können fiebersenkende Medikamente unter Umständen kontraproduktiv werden. Nichtsdestotrotz kann es natürlich einen graduellen Anstieg von Fieber geben, der lebensbedrohlich ist und eine solche Maßnahme nötig macht.
b)Auch Infektionen können als evolutionär bedingter, nie endender Wettlauf zwischen sich aufrüstenden Keimen und dem darauf reagierenden Immunsystem des Menschen gesehen werden. Demzufolge wäre unser antibiotikagestützter Sieg über Krankheitserreger nur ein vorläufiger.
c)Veränderte Umweltbedingungen können dazu führen, dass evolutionär angelegte körperliche Parameter (z. B. unsere Affinität zu süßen, fetten und stark gewürzten Speisen) zunehmend dysfunktional werden. Unter Steinzeitbedingungen war es wichtig, sich die wenigen hochkalorischen Nahrungsmittel, die man bekam, einzuverleiben. In einer Überflussgesellschaft können Blutgefäßablagerungen, Durchblutungsstörungen u. v. m. die Folge sein.
d)Genetisch tradiert und vererbt wird alles, was den Erbträger nicht daran hindert, erfolgreich Kinder in die Welt zu setzen und diese großzuziehen. Folglich können eine Reihe von Krankheitspotenzialen (z. B. Krebs des höheren Lebensalters) unbeschadet weitergegeben werden.
e)Unter „Designer-Kompromissen“ verstehen die Autoren den Preis, den die Individuen in der Evolutionskette für Weiterentwicklung zahlen. Mehrfach wurde beispielsweise das Rückgrat umfunktioniert: Von der torpedoförmigen Struktur eines wasserbewohnenden Lebewesens ging es über die „Brückenkonstruktion“ des landerobernden Wirbeltieres zur „Turmkonstruktion“ des aufrechtgehenden Homo sapiens. Das geht für 30 Jahre (und die sind zur Aufzucht der Nachgeborenen notwendig) problemlos vonstatten. Danach kommen die Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule und die chronischen Rückenschmerzen zum Tragen.
Eine solche evolutionäre Sichtweise auf die Entstehung von Krankheiten ermöglicht eine Vielzahl neuer diagnostischer und therapeutischer Ansätze. Auf diese kann hier allerdings im Einzelnen nicht eingegangen werden.
Psychosomatische Krankheitsmodelle: Psychosomatische Krankheitsmodelle gehen weiter und formulieren Wechselwirkungen zwischen körperlichen Phänomenen und seelischen Erkrankungen, die in Kap. 2.2noch detaillierter besprochen werden.
Stress-Coping-Modell: Ähnliches gilt für das von Canon und Lazarus vorgestellte Stress- und Stress-Coping-Modell, das vor allem Zusammenhänge zwischen Krankheit, Stress und Stressbewältigung fokussiert. Auch dies wird in Kap. 2.2näher erläutert werden.
Biopsychosoziales Krankheitsmodell: Neuere Ansätze der Sozialmedizin und insbesondere der Sozialpsychiatrie entwickelten biopsychosoziale Krankheitsmodelle, die Krankheiten, ihre Ursachen, Entstehungen und Manifestationen jeweils auf biologischer, psychischer und sozialer Ebene untersuchen. Auch die Therapieansätze sind demzufolge mehrdimensional. Insbesondere wird auch auf Wechselwirkungen biologischer, psychischer und sozialer Faktoren eingegangen.
So kann beispielsweise eine Depression biologisch (Serotoninmangel), psychisch (Verlusterlebnis) oder sozial (Vereinsamung) (mit-)begründet sein, und die Behandlung kann pharmako-, psycho- und sozialtherapeutisch erfolgen, wobei die Faktoren verschiedener Ebenen interagieren (Näheres in Hülshoff 2001, 86ff).
Soziologische Krankheitsmodelle: Soziologische Krankheitsmodelle untersuchen dagegen die soziale Bedeutung von Krankheit.
Rollenmodell von Parsons
Im „Rollenmodell“ von Parsons findet sich eine zwar häufig kritisierte, letztlich aber auch heute noch aktuelle Beschreibung der Rolle des Kranken. Demzufolge beinhaltet die Krankenrolle zum einen eine temporäre Befreiung von sozialen Pflichten: Der kranke Rekrut wird vom Wehrdienst freigestellt, beim erkrankten Kind kann eine temporäre Schulbefreiung erfolgen. Zum anderen wird der Betroffene nicht für die Krankheit verantwortlich gemacht. Wurde bis in die 1960er Jahre Alkoholismus als Charakterschwäche angesehen, so wird Abhängigkeit vom Alkohol seit 1968 als Krankheit anerkannt. Dies brachte eine erhebliche Entlastung der Patienten mit sich. Allerdings hat, so Parsons, der Patient die Verpflichtung, gesund werden zu wollen, wozu er entsprechend der Erwartung seiner Umgebung fachkundige Hilfe aufsuchen muss – eine Anforderung, der nicht alle alkoholkranken Menschen nachgehen.
sozialeRandgruppen
Ein anderer Zweig der Medizinsoziologie befasst sich mit der Frage, ob die Zugehörigkeit zu sozialen Randgruppen die Auftrittswahrscheinlichkeit von Krankheiten erhöht. Nach einschlägigen Studien, auf die hier nicht eingegangen werden kann, tut sie das: Häufigkeit und Schwere von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronischen Erkrankungen, psychischen und Suchterkrankungen korrelieren eindeutig mit der Zugehörigkeit zur sozialen Schicht. Auch die Lebenserwartung armer Menschen – selbst in Wohlstandsgesellschaften – ist signifikant niedriger als die von gut situierten Bürgern.
Labeling-Approach
Eine dritte Fragestellung medizinisch-soziologischer Forschung befasst sich damit, inwieweit insbesondere chronische und psychische Erkrankungen einschneidende Folgen für den Sozialkontakt und die gesellschaftliche Partizipation haben. Der so genannte „Labeling-Approach“ (Etikettierungsansatz) geht davon aus, dass eine Vielzahl von Krankheiten auf Seiten der Umgebung zu mehr oder weniger starren Rollenerwartungen führt, unter denen der Patient mitunter mehr leidet als unter der Krankheit selbst. So wird fälschlicherweise Epilepsie mitunter mit intellektueller Behinderung verbunden – über 90% aller Menschen mit hirnorganischen Krampfanfällen leben und arbeiten jedoch völlig unauffällig in oft sehr verantwortlichen Positionen (s. Hülshoff 2008, 213ff).
Risikofaktoren-Modell: Das Risiko-Faktoren-Modell versucht, den vielschichtigen Faktoren, die einer Krankheit zugrunde liegen können, gerecht zu werden, indem hier gleichzeitig medizinische, psychologische und soziologische Krankheitsrisiken Beachtung finden. So kann beispielsweise eine Bronchialkrebs-Erkrankung durch eine biologisch-genetisch begründete Vulnerabilität (Verletzlichkeit) mit verursacht sein, ihr Auftreten aber in engem Zusammenhang mit dem Rauchverhalten gesehen werden. Dieses wiederum speist sich auch aus psychologischen Momenten (der Stressbelastung, dem süchtigen Verhalten, den individuellen Lebenserfahrungen etc.) und gesellschaftlichen Phänomenen, die z. B. über Werbung, Gruppenkonformität, epochale Einflüsse oder Gesetzeslage das Rauchen begünstigen oder präventiv zu erschweren versuchen. Hinzu kommt, dass es physikalische, chemische und psychosoziale Faktoren gibt, die unabhängig vom Rauchen ihrerseits das Krebsrisiko beeinflussen können – Asbestbelastung, Strahlenexposition u. a. Faktoren mehr.
Theologische und philosophische Ansätze: Auch philosophische und theologische Ansätze zur Krankheitserklärung bzw. Bewältigung lassen sich finden. Im Wort „Heil“ bzw. „Heilung“ gibt es bereits den Hinweis, dass hierunter ursprünglich eine Wiederherstellung ganzheitlichen Wohlbefindens verstanden wurde. Die ers-ten Heilkundigen waren nicht nur Medizinmänner und -frauen, sondern hatten oft auch priesterliche Funktionen. Krankheit wurde nicht nur als körperlich-dysfunktionales Phänomen verstanden, sondern galt auch als eine Störung des sozialen Miteinanders sowie eine Entfremdung von Natur und transzendentalem Hintergrund. Dementsprechend erforderte Heilung eine Aussöhnung mit dem eigenen Körper, der Sozietät (dem Stamm, dem Klan), aber auch mit der Gottheit.
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