„Siehst du gut aus, dem Echten zum Verwechseln ähnlich“, stellte ich staunend fest, während ich ihn intensiv begutachtete. Er stand da, genau wie ich ihn aus einigen Fernseh- und Live-Auftritten in Erinnerung behalten hatte. Das blonde Haar identisch frisiert und die Klamotten, die man von ihm gewohnt war. Selbst die markante bunte Uhr hatten sie nicht vergessen. Ich hielt meine petrolfarbene Uhr daneben. „Fast gleich, nur dass du heute eine gelbe trägst!“ Gut, dass ich nicht alleine hier war. Wer weiß, was ich sonst mit dem hilflosen Kerl angestellt hätte! Ich stand ihm unmittelbar gegenüber und hatte plötzlich den Eindruck, er würde auf mich zukommen. Ein leiser, angenehmer Schreckensschrei entrann mir. Ich hatte Herzrasen und bemerkte, dass mir die Schamesröte ins Gesicht stieg. – Wie peinlich!
Schnell machte ich einen Schritt zurück, zum Glück hatte meine Freundin nichts mitbekommen. Eine Erklärung hätte mich wahrscheinlich in Verlegenheit gebracht.
Tess nahm mir die Kamera aus der Hand. „Na los, umarm ihn doch mal!“, forderte sie mich energisch auf. „Wer weiß, ob sich die Gelegenheit jemals wieder bietet.“
Ich tat, als sei ich völlig gelassen und witzelte mit ihr herum, während ich eine Hand über seine Schulter legte. Bei den Luminous hielten wir uns am längsten auf und bemerkten nicht, wie die Zeit vergangen war. Langsam begaben wir uns zurück zum Ausgang. Währenddessen riefen wir George an, wie er es uns aufgetragen hatte. Er versprach, in wenigen Minuten dazusein. Es war kurz vor Mitternacht, als wir vor der Tafel mit den Öffnungszeiten standen. Mir fiel auf, dass dieses Kabinett eigentlich geschlossen war. „Öffnungszeiten Montag bis Freitag von 09.30 bis 17.30 Uhr und Samstag und Sonntag von 9 bis 18 Uhr. Hast du mal auf die Uhr geschaut??? Es ist kurz vor Mitternacht!“, meinte ich erstaunt, während ich Tess mein Zifferblatt unter die Nase rieb.
„Jaja, schon gut, du hast recht! Keine Ahnung, warum wir noch Zutritt hatten. Wir können George fragen, vielleicht hat er ja eine Erklärung dafür.“ Zustimmend nickte ich, als die schwarze Limousine vorfuhr. Schnellen Schrittes ging George um das Auto, um uns die Tür zum Einsteigen zu öffnen. Unser Fahrer hatte noch nicht richtig Platz genommen, da fingen wir an, ihn zu löchern. „George, warum haben wir die Möglichkeit, zu dieser Uhrzeit das Kabinett zu besuchen?“ Laut George gab es eine ganz plausible Antwort: „Sie haben doch nicht umsonst den Ausweis von F.I.L. Records bekommen. Alle Sänger, die für F.I.L. arbeiten und das Nachtleben Englands kennen lernen wollen, reisen mit diesen Pässen. Dafür wird selbstverständlich auch mal eine Sehenswürdigkeit wie Madame Tussauds oder eine andere Location geöffnet.“ Wir waren überrascht und Tess meinte: „Wie jetzt? Aber wir sind doch gar keine Promis!“
George lachte über so viel Naivität. „Natürlich seid ihr keine Promis, aber ihr sollt euch wie welche fühlen. Und wie fühlt es sich an?“ Jetzt musste sogar ich lachen „Ich fühl mich wie immer, aber der Service ist grandios!“ „Also ich fühl mich besonders und es fühlt sich megageil an!“ Tess klatschte vor Übermut in ihre Hände. George erklärte uns, dass es den Promis erleichtert werden sollte, mehr Privatsphäre zu haben. Einfach ganz normal Sightseeing zu betreiben, ohne von Reportern oder Fans belagert zu werden. „Oh George, Sie haben Recht! Es war ja keine Menschenseele in dem Kabinett zu sehen. Dass uns das nicht eher aufgefallen ist!?“
Tess fand das cool und freute sich über die Aufmerksamkeit, die sie durch den Pass erhielt. Auf jeden Fall hatten wir jetzt eine Antwort darauf, warum die Kassiererin im Wachsfigurenkabinett so nervös geworden war. Wahrscheinlich dachte sie, dass wir berühmte Musikerinnen seien. Total verrückt! Sie konnte mit uns beiden eigentlich nichts anfangen und trotzdem reagierte sie so nervös. Auf die erste Erfahrung als „Promi“ beschlossen wir beide, den Abend in einem Pub ausklingen zu lassen. Wir beschrieben George unsere Vorstellung und er suchte etwas Passendes für uns heraus. Nach einigen Minuten Fahrt bogen wir die Winsley Street ein. Wir merkten, dass George die Geschwindigkeit drosselte und sahen aus dem Fenster. Dort erblickten wir vor dem Pub Chinawhite eine Menschenschlange von einer beachtlichen Länge. George hatte uns erklärt, dass sich hier oft Promis aufhielten, wenn sie ausgingen. Allein schon, damit sie unter ihresgleichen sein konnten. Angeblich waren hier schon Madonna, 50 Cent, Liam Gallagher, der Leadsänger von Oasis, sowie Schauspieler wie Jude Law, Lindsay Lohan und andere zu Gast. Sogar die jungen Mitglieder des britischen Königshauses sollten hier hin und wieder verkehren.
Ehrlich gesagt hatte ich keine große Lust, mich in die Schlange zu stellen. Noch während ich darüber nachgrübelte, wie ich es am besten meiner Freundin verkaufen sollte, ging unsere Tür auf. Ein großer Mann, dessen Namensschild ihn als Security-Mitarbeiter auswies, hatte sie geöffnet und begrüßte uns mit einem: „Hallo Ladys, ihr kommt genau zur rechten Zeit! Es fängt gerade an, amüsant zu werden.“ Er reichte seinen Arm ins Auto. „Hallo George, wie geht es?“
„Alles bestens, danke! Bring mir die Damen heile wieder.“
Wir stiegen aus und der überdurchschnittlich große Mann bahnte uns einen Weg vorbei an allen wartenden Menschen.
Der Pub war in zwei Bereiche aufgeteilt. Neugierig schaute ich mich um. Die Räume wirkten großzügig ausgestattet im asiatischen Stil mit den verschiedensten Sitzmöglichkeiten. Bunte Kissen lagen auf den Couchen und luden zum Rumlümmeln ein. Das wenige Licht, der chinesischen Lampen, das nur leicht schimmernd die Räume erhellte, machte dem Namen der Location alle Ehre. Die Musik war laut und der künstliche Nebel hatte den Sauerstoffgehalt drastisch reduziert. Ein Angestellter eilte zu uns, um die Bestellung aufzunehmen. „Bitte seien Sie so nett und bringen Sie mir irgendetwas Frisches zu trinken. Ich konnte mich anhand der Karte noch nicht orientieren“, orderte Tess, die noch immer wie Falschgeld rumlief. Der Kellner tat mir schon ein wenig leid, denn die Auswahl der frischen Getränke war sehr groß. Darum bestellte ich mir einen Gin Fizz. Und das Ganze doppelt, damit meine Freundin ihre Erfrischung bekam. Die Musik war super! Tess hielt nichts mehr auf der Couch, sie fing an zu tanzen und schäkerte, was das Zeug hielt, mit einigen Männern. Tess war ein Vamp! Sie sah selbst jetzt, zu fortgeschrittener Stunde noch traumhaft schön aus. Fast jedes Mal, wenn ich mich nach ihr umsah, flirtete sie mit einem anderen Kerl. Die Zeit ging dahin. Vom vielen Tanzen und Trinken waren wir müde geworden und dachten an den Heimweg. Tess holte ihr Handy heraus, um George Bescheid zu geben. Wieder wollte er in fünf Minuten vor der Tür sein. Wir bemühten uns in Richtung Ausgang. Von dort aus begleitete uns der Security-Mann zurück zum Auto, wie er es George versprochen hatte. Er öffnete uns die Tür. „Kommt gut nach Hause, Ladys, eine gute Nacht und bis bald.“ Fragend schaute George uns an. „Na, wie hat es Ihnen gefallen?“ Wir lachten und erzählten, dass wir einen wunderbaren Abend verlebt hatten. „Das ist schön, wo darf ich Sie jetzt hinbringen?“ „George, seien Sie so gut und bringen uns bitte zurück ins Hotel. Der Abend war lang und wir wollen morgen fit für das Konzert sein.“ Er ließ den Motor des Phaetons an und fuhr los. Nach nur zehn Minuten Fahrt fuhren wir in die Bayswater Road ein. Direkt vor dem Hotel stoppte er den luxuriösen Wagen und ließ uns aussteigen.
Mit dem Fahrstuhl fuhren wir in den fünften Stock. Vor der Tür nahm Tess mich in den Arm. „Schlaf gut, meine Süße, bis morgen.“
„Dito, wer zuerst wach ist, meldet sich.“
- Junos Sicht –
Ein Geräusch weckte mich. Fragend sah ich mich um und bemerkte, dass meine Jacke durch meine Bewegungen vom Bett gefallen war. Die Sonne stand hoch und schien mir mitten ins Gesicht. Voller Tatendrang hüpfte ich aus meinem Bett und öffnete zum Lüften die Balkontür.
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