Zum Glück bekommt man in der Metro Einkaufswagen, in denen ich wohnen könnte oder bald müsste, wenn ich nicht rechtzeitig meine vier Wände zu einer Festung gegen Plünderer umbauen würde. Die Verpflegung für eine längere Belagerung sollte ich hier in ausreichender Menge finden. Aber wie viel Reis braucht der Mensch täglich? Wie viele Nudeln, Trockenobst und eingelegtes Gemüse? Kann man Brot zwei Jahre einfrieren oder sollte man lieber die Backzutaten bunkern? Was aber, wenn es keinen Strom für Herd und Kühlschrank mehr gäbe? Dann bräuchte ich noch Heizöl für ein Notstromaggregat. Doch das gab es hier nicht. Stattdessen füllte ich meinen Wagen mit zwei 15 Kilosäcken Reis, ähnlich vielen Nudeln, 80 Konserven Gulasch, Fisch, Ravioli, Gemüse und Pilzen. Außerdem Magermilchpulver und Honig, als ob es kein Morgen gäbe, und Toilettenpapier für die nächsten zwei Jahre. Zusätzlich packte ich noch eine Getreidemühle in den Korb, sackweise Gerste, Roggen, Dinkel und Hafer und jede Menge Brotaufstriche, Knäckebrot, Nüsse, Gewürze, Öl, Essig, Fertigsuppen und Süßigkeiten. Den Schluss bildeten Kaffee, Tee, diverse Hygieneartikel und eine ganze Wasseraufbereitungsanlage für knapp 500 Euro. Das hierfür nötige Wasserstoffperoxid hatte ich ebenso wie mehrere Flaschen Chlorreiniger, Zitronensäure und gefrorenes Saftkonzentrat zuvor im Internet bestellt, da mir der Transport dieser Stoffe zu gefährlich schien.
An der Kasse war ich froh, meinen Goldbarren wieder zurückgetauscht zu haben. Denn so wie der Kassierer meinen bis zum Rand gefüllten Einkaufswagen musterte, bezweifelte ich, dass die hier auf Gold herausgegeben hätten.
»Türkische Hochzeit oder wandern Sie aus?«, fragte er mich ohne den Anflug eines Lächelns.
»Weder noch, ich sorge nur vor.«
»Natürlich, man kann ja nie vorsichtig genug sein. Zum Schluss ist plötzlich Sonntag und man hat nichts zu essen daheim.«
Seine Kollegin an der Nachbarkasse kicherte, doch mein Kassierer verzog noch immer keine Miene.
»Ich möchte Sie ja nicht verunsichern, aber in Notzeiten hat man besser ein paar Reserven zuhause«, versuchte ich mich zu rechtfertigen.
»Verstehe, aber wenn das mit den Notzeiten noch auf sich warten lässt, empfehle ich Ihnen die Eröffnung eines Lokals, genug Vorräte hätten Sie ja jetzt.«
Ich fühlte mich nicht ernst genommen. Doch damit befand sich der muntere Bursche mit der schicken, blauen Metro-Weste in guter Gesellschaft, wenn ich an meine Kollegen und nicht zuletzt Tessa dachte, die mir gestern erst empfohlen hatte, mal Urlaub zu machen, am besten allein und in Griechenland, um meinen Beitrag zur Rettung der griechischen Wirtschaft zu leisten.
»Nehmen Sie auch Goldbarren?«, versuchte ich zu scherzen, doch auch hier erwies sich mein Gegenüber als humorresistent.
»Da muss ich den Geschäftsführer fragen.«
Noch bevor er zum Mikrofon greifen konnte, zog ich meine EC Karte und reichte sie ihm.
»Nur keine Umstände.«
Gefühlte 30 Minuten später stand ich mit meinem Einkaufswagen von der Größe eines Kleinwagens und zwei IKEA-Tüten voller Toilettenpapier vor dem Einkaufszentrum und wusste nicht weiter. Einer der wenigen Momente in München, in dem ich bedauerte, kein Auto zu haben. Das Taxi, das mich und meine Einkäufe schließlich nach Hause brachte, rundete meine bisherigen Ausgaben auf den nächsten Hunderterbetrag auf. So langsam gestaltete sich die Rettung meiner Existenz teurer, als ich gedacht hätte. Noch ein paar Monate ohne Finanzkrise und ich wäre pleite.
Zuhause packte ich erst einmal sämtliche Lebensmittel, den ganzen Hygienekram und die Wasseraufbereitungsanlage in den Keller. Allerdings kam man jetzt weder an die Räder noch den Staubsauger heran. Doch das eigentliche Chaos herrschte im Hausflur, wo unser Vermieter diverse Baumaterialien gelagert hatte und mir völlig unbekannte Menschen die Möbel der verstorbenen Schmidt in einen vorm Haus stehenden Container schleppten.
Tessa war noch nicht daheim, als ich mich in unserer Wohnung nach Stauraum für die gerade gekauften Notreserven umsah. Unsere Schränke waren voll mit Dingen, die uns in der Krise kaum behilflich sein würden. Im Gegenteil, Tessas gesammelte Stofftiere und Kinderbücher, kistenweise Schulhefte, in die sie nie wieder schauen würde, sowie den Dekorationskram für Weihnachten, Ostern und Halloween würden wir in schlechten Zeiten kaum vermissen.
So nutzte ich die Gunst der Stunde und begann all das lediglich sentimentalen Erinnerungen geschuldete Zeug in den Speermüllcontainer vorm Haus zu entsorgen. Dabei achtete ich peinlich darauf, an der übrigen Wohnung nichts zu verändern, um Tessa schonend mit meinen Plänen der Selbstversorgung vertraut zu machen. Nach und nach schaffte ich so Platz für all die Dinge in den Schränken, die unser Überleben sichern halfen. Tessa würde Augen machen.
Und Tessa machte Augen und ein riesen Fass auf. Man musste sie bis ins Dachgeschoss gehört haben. Zum Glück hämmerten und bohrten die Bauarbeiter auf dem Außengerüst bis spät in die Nacht, so dass lediglich mir die Ohren glühten. Doch nicht der von mir entsorgte Kram hatte sie explodieren lassen, sondern eine von mir trotz aller Vorsicht versehentlich zerbrochene Vase. Ein überaus hässliches Exemplar, das seit Tessas Einzug auf unserer Flurkommode stand und deren Scherben nun im Müll lagen. Mit ihnen ein Haufen Dreck, bei dem es sich, wie ich jetzt erfahren musste, um die sterblichen Überreste ihrer eingeäscherten Tante handelte.
In dieser Nacht schlief ich abermals auf der Gästecouch, von deren Existenz ich angesichts unserer Zweiraumwohnung bis vor wenigen Tagen noch gar nichts wusste. Nun war also unser durchgesessenes Sofa unsere Gästecouch. Machte das das Wohn- zum Gästezimmer?
Tessa aber schien das weder logisch noch komisch zu finden, als sie mir statt einer Antwort die Schlafzimmertür vor der Nase zuschlug. Da stand ich nun im Schlafanzug, allein mit meinem Bettzeug im Arm und wusste nicht, ob ich nochmals klopfen sollte, als sie unvermittelt die Tür ein weiteres Mal aufriss, mir mein Schlafkissen vor die Füße schleuderte und die Tür erneut ins Schloss warf. Damit war wohl alles gesagt. Doch wie wir Männer nun einmal sind, musste ich Gewissheit haben, weshalb ich leise klopfte.
»Hey Tess, mach mal halblang. Du glaubst, unser Vermieter hat die alte Schmidt um die Ecke gebracht und tust nichts. Aber wenn ich mal Ordnung mache, fliege ich fast raus. Klingt irgendwie unfair, meinst du nicht?«
Ob fair oder nicht, mir froren im ungeheizten Flur die Füße ab, während ich barfuss auf ihre Antwort wartete.
Doch die kam nicht. Auch nicht am nächsten Morgen, als ich mich mit stechenden Rückenschmerzen vom Sofa mühte. Tessa hatte sich im Bad eingeschlossen, mir blieben nur die Gästetoilette und der Friedensversuch in Form frisch gebrühten Kaffees, den Tessa unbeachtet in der Küche stehen ließ. Als sie schließlich grußlos die Wohnungstür hinter sich zuzog, ahnte ich, irgendetwas falsch gemacht zu haben.
Zum Glück hatte ich ihr nichts von den mit unseren Klamotten gefüllten Müllsäcken auf dem Balkon erzählt. Einem Ort, den Tessa bei Temperaturen knapp über Null kaum betreten würde. Allerdings hatte ich mich auf die Sachen beschränkt, von denen Tessa immer behauptete, sie nie wieder anziehen zu wollen. Manchmal musste man Prioritäten setzen und ich war mir sicher, Tessa würde es verstehen, wenn erst Horden marodierender Plünderer von Haus zu Haus zögen, um alles mitzunehmen, was nicht niet- und nagelfest wäre. Dann nämlich würde auch sie nicht mehr vor die Tür wollen, weshalb es am Vorabend drohender Unruhen Reserven anzulegen und vorzusorgen galt. Tessa konnte sich auf mich verlassen. Ich hatte die Überlebensstrategien meiner neu angeschafften Krisenratgeber verinnerlicht und wusste, was als nächstes zu tun war.
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