»Wissen Sie zufällig, wo es von hier zur Auenstraße geht?«, erkundigte ich mich wenig später beim Bezahlen der Rechnung. Die Wirtin kratzte sich mit ihrem Kugelschreiber am Kopf, wiegte ihr Doppelkinn und fragte schließlich die beiden Typen an der Theke, ob die wüssten, wo die Auenstraße läge. Mit zwei unterschiedlich vagen Wegbeschreibungen und einem ersten zweifelhaften Eindruck von den Eingeborenen Gröbenzells zogen wir in die anbrechende Dämmerung auf der Suche nach einem neuen Zuhause.
Die zur Besichtigung anstehende Doppelhaushälfte lag an einer Wendeschleife und damit einiges ruhiger als das Reiheneckhaus in Vaterstetten. Soweit so gut.
Weniger gut verhielt sich ein Audi-Cabrio Fahrer, der, als wir die Straße zum gesuchten Haus überqueren wollten, aus seiner Einfahrt schoss. Ich konnte Tessa gerade noch auf den Fußweg zurückzerren, als der Wagen mit quietschenden Reifen neben uns zum Stehen kam und der Fahrer uns aus dem geöffneten Verdeck heraus zurief, dass wir Arschlöcher uns von der Straße scheren sollten. Ein Kreischen der Gangschaltung später röhrte der Motor wieder auf und wir blieben mit offenem Mund in einer Abgaswolke stehen.
»Volldepp«, rief ich dem um die Kurve biegenden Wagen hinterher, begleitet von meinem, in die Höhe gereckten Mittelfinger.
»Dem hast du’s aber gegeben«, grinste Tessa und schaute sich nach der gesuchten Hausnummer um.
Das Objekt unserer Begierde entpuppte sich als die rechte Hälfte des Hauses, aus dem der Inbegriff deutschen Proletariats vor einer Minute gefahren kam. Das ließ auf eine entsprechend harmonische Nachbarschaft schließen.
Diesmal öffnete ein älteres Ehepaar, dem man glaubhaft abnahm, dass sie die steilen Stiegen in die oberen Stockwerke nicht mehr aus eigener Kraft bewältigen konnten. Doch bevor wir uns über die Hintergründe des Verkaufs unterhalten sollten, folgte die obligatorische Hausführung durch den Ehemann, während seine Frau in der diesmal etwas geräumigeren Küche die Getränke herrichtete. Zum Glück hatte ich kein Bier bestellt, denn das wäre angesichts der auf Anschlag gedrehten Heizung und der Geschwindigkeit, mit der wir durch die übrigen Räume geführt wurden, bei unserer Rückkehr körperwarm gewesen.
Die einzelnen Zimmer waren klein, verlebt und voller Erinnerungen an ein Leben, als man sich in Deutschland noch auf Silvester freute, weil es jedes Jahr ein bisschen aufwärts ging, die Löhne stiegen und die Preise sanken, Gründerzeit. Es fühlte sich gemütlich an, weshalb ich bereit war, den Schimmel an den Kellerwänden ebenso zu ignorieren wie die seit zwanzig Jahren ins Parkett gebohnerten Schmutzreste. Das Haus selbst verströmte den vertrauten Geruch von alter Wäsche, feuchten Spätsommertagen und Erde.
»Wollen Sie ein Stück Kuchen, selbstgebacken?«, fragte die Gastgeberin meine Freundin, die zurück auf der Fernsehcouch verträumt in ihrem dampfenden Pfefferminztee rührte. Tessa sah überrascht auf, fasste sich und schüttelte den Kopf.
»Ich aber würde gern ein Stück nehmen«, antwortete ich angesichts des enttäuschten Blicks der alten Frau. Freudestrahlend brachte sie mir wenige Minuten später einen Rührkuchen, der noch aus Zeiten stammen musste, als deren Kinder im Sandkasten vorm Haus spielten. Tapfer kämpfte ich gegen den drohenden Erstickungstod mit Leitungswasser an, das mir der Herr des Hauses großzügig nachschenkte.
»Sie suchen also ein Haus?«, eröffnete er dabei das Gespräch. Ich nickte und versuchte vergeblich gegen den Würgereiz anzuschlucken.
»Hmmf gnnng ohhmm«.
»Was mein Freund vermutlich sagen will«, unterbrach Tessa meinen Versuch, mit vollem Mund zu antworten. »Wir schauen uns gerade ein wenig nach etwas um, wo Kinder noch ungestört im Grünen spielen können.«
Beglückt schlug das Mütterchen die Hände zusammen und ihr Mann wiegte anerkennend das kahle Haupt.
»Schön zu hören, dass es noch immer junge Menschen gibt, die sich trauen, Kinder in diese Welt zu setzen.«
»Heinz, fang nicht schon wieder an«, unterbrach ihn seine Frau, doch ich war hellhörig geworden.
»Was meinen Sie mit dieser Welt ?«, wandte ich mich an Heinz. »Ich frage mich nämlich auch, ob man Kindern ein Leben in diesen Zeiten noch zumuten sollte.«
»Sie brauchen doch nur mal raus zu schauen«, antwortete mir der alte Herr mit zittriger Stimme. »Mord und Totschlag, Krisen, wo man hinsieht. Und dann dieser Europawahnsinn. Das kann doch nicht gut gehen.«
»Ganz meine Meinung. Vor allem, wenn wirtschaftlich alles den Bach runter geht«, pflichtete ich ihm bei und ignorierte Tessas entnervtes Augenrollen.
»Wen wundert’s. Jeder denkt doch nur an sich. Wenn wir damals ‘45 auch so gedacht hätten, würde Deutschland noch immer in Schutt und Asche liegen.«
»Wenn ich mir manche Innenstädte so ansehe, sind wir nicht mehr arg weit davon entfernt.«
»Genau. Wenn aber die Türken erst in der EU sind, geht’s hier richtig rund. Eure Generation kann einem nur leid tun«, brummte Heinz grimmig. Seine Frau hüstelte verlegen, doch ihr Mann war nicht zu bremsen. »Ist ja auch kein Wunder, wenn uns Steinewerfer und Kommunisten regieren. Das reinste Tollhaus da in Bonn.«
»Berlin«, flüsterte Tessa, aber mein Blick ließ sie verstummen.
»Ja, vor der Islamisierung Europas habe ich auch Angst«, nickte ich nachdenklich.
»Kein Wunder, wenn die da oben jeden Ziegenficker zu uns reinlassen und überall Moscheen hochziehen. Bald muss man als Christ Angst haben, auf die Straße zu gehen. Wo man hinschaut, Ausländer und Terroristen«, redete sich der alte Mann jetzt richtig in Rage.
»Heinz, ich bitte ich«, zischte seine Frau, als sich Tessa räusperte.
»Ihr Nachbar kommt dann vermutlich auch nicht aus Deutschland?«, unterbrach sie unseren Gastgeber, der seiner Frau gerade widersprechen wollte. Das Ehepaar wechselte einen erschrockenen Blick.
»Ich frage ja nur, weil uns dieser Terrorist vor Ihrem Haus fast umgefahren hätte.«
»Der junge Mann von nebenan hat es manchmal ein wenig eilig. Ich denke, das war keine Absicht«, antwortete das Mütterchen zögerlich.
»Ach, dann habe ich die uns zugerufenen Beleidigungen sicher auch missverstanden?«, bohrte Tessa weiter in der Wunde. »Weiß der eigentlich, dass Sie Ihr Haus verkaufen wollen?«
Wieder schauten sich die alten Leute an, bis schließlich Heinz langsam den Kopf schüttelte.
»Ich glaube nicht.«
»Sie haben wohl nicht viel Kontakt zu Ihren Nachbarn?«
»Hin und wieder. Mit denen von gegenüber sitzen wir manchmal im Sommer zusammen im Garten, grillen oder trinken Kaffee.«
»Ja, man kann es sich nicht immer aussuchen, wer neben einem wohnt«, wollte ich den zwei alten Leutchen zur Seite springen, denen Tessas Nachfragen offensichtlich unangenehm waren.
»Ach, meist bekommen wir von denen gar nichts mit«, versuchte uns Heinz zu beruhigen, als dessen Frau plötzlich in Tränen ausbrach und schluchzend erzählte, dass die Nachbarsfamilie sie seit Jahren terrorisiere und sie keine Kraft mehr hätten, das noch länger auszuhalten. Beruhigend streichelte der alte Mann seiner Frau die Hand.
Als wir uns wenige Minuten später verabschiedeten, sah uns Heinz nicht in die Augen. Ich spürte seine Enttäuschung. Vermutlich waren wir nicht die ersten, die von einem Kauf zurückgetreten waren.
»Woher wusstest du, dass die mit ihren Nachbarn im Krieg leben«, fragte ich Tessa, nachdem wir eine Weile stumm nebeneinander her gelaufen waren.
»Hast du dir mal den Gartenzaun zwischen den Grundstücken angesehen?« Ich verneinte.
»Eben, weil es gar keinen gibt. Nur eine Mauer. Und wer bitte errichtet im Garten zwischen zwei Doppelhaushälften eine Mauer? Sicher niemand, der am Wochenende mit seinem Nachbarn grillt.«
»Da ist was dran«, stimmte ich nachdenklich zu.
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