»Wir ratzen am Strand«, sagte Franky voller Stolz. Ich machte mir in diesem Moment Gedanken darüber, ob wir wirklich zum Schlafen kommen würden, denn neben uns hatten sich vier Engländer niedergelassen. Sie becherten schon am Nachmittag, was das Zeug hielt und waren noch gut im Geschäft, als wir unseren Schlafplatz verließen.
»Wisst ihr eigentlich die Bundesligaergebnisse von heute?«, fragte ich Jeanette und Nora. Irgendwie musste ich mich ja in das Gespräch einbringen, warum nicht mit Fußball. Schnell wurde mir klar, dass es der falsche Einstieg war. Ihren Blicken nach zu urteilen hätte ich auch fragen können, wo sich die nächste Tankstelle befindet. Auch Cash sah mich belämmert an, während Franky wahrscheinlich ebenso gerne die Antwort gewusst hätte, aber souverän und gönnerhaft lächelte.
»Wir interessieren uns für alles Mögliche, aber bestimmt nicht für Fußball«, sagte Jeanette.
»Aber ich denke ihr kommt aus Köln? In Köln soll sich jeder Zweite für Fußball interessieren«, stellte Franky fest.
»Wir aber nicht. Wir stehen auch nicht auf Karneval, falls das deine nächste Frage ist.«
»Karneval ist doch bescheuert. Spießiger Ringelpietz. Aber mal ehrlich, was habt ihr denn gegen Fußball? Schließlich ist der 1. FC Köln schon einige Male Deutscher Meister geworden.« Franky ließ nicht locker.
»Fußball ist genauso bescheuert wie Karneval. 22 Spieler laufen einem Ball hinterher«, sagte Nora und fing an zu lachen. Natürlich, die alte Formel der Anti-Fußball-Fraktion.
»Na ja, ganz so einfach ist das nicht«, mischte ich mich ein. »Fußball ist mehr, als nur einem Ball hinterher zu rennen.«
»Ich weiß, zum Fußball gehören Taktik und Ballgefühl und so'n Scheiß«, sagte Jeanette.
»Woher weißt du das denn, wenn ihr euch gar nicht für Fußball interessiert?« fragte Franky interessiert. Die gleiche Frage wollte ich auch stellen, kam aber um Sekundenbruchteile zu spät.
»Weiß ich von meinem Freund. Der versucht jedes Wochenende mit mir über Fußball zu diskutieren.«
»Und wo ist dein Freund?« Franky begann ein Kreuzverhör.
»In Köln.«
»Versteh ich nicht. Ich meine, warum bist du ohne den hier?«
»Es gibt ein paar Gründe, ohne ihn hier zu sein. Du bist sehr neugierig.«
»Das stimmt«, sagte Franky, »Neugierde ist eine meiner ganz wenigen Schwächen.«
»Ist dein Freund auch in Köln geblieben?«, fragte Cash und schaute zu Nora rüber. Cash hatte bisher noch gar nichts gesagt. Dass er sich gleich nach Noras Freund erkundigte, schien mir verdächtig.
»Ich habe augenblicklich keinen Freund«, sagte Nora.
»Dann verstehst du wirklich nichts von Fußball, oder?«, sagte Cash.
»Nicht die Bohne.« Nora verdrehte ihre kleinen Augen. Das sah schon wieder gut aus. Ich schaute zum Tresen, hinter dem zwei blonde Frauen und ein Typ hektisch mit Gläsern jonglierten. Alles in deutscher, holländischer oder englischer Hand, vermutete ich. Aus den leidgeprüften Boxen dröhnte Hellbound Train von Savoy Brown . Es war einer meiner absoluten Lieblingsrocksongs noch aus der Zeit, als ich in Berlin eintraf. Ich verabschiedete mich zur Tanzfläche.
Als ich zurückkam, hatte Franky bei Jeanette angedockt und Cash bemühte sich intensiv um Nora, schien allerdings nicht richtig voranzukommen. Das sollte sich zum Leidwesen Cashs den ganzen Abend nicht ändern.
Der Rückweg zum Strand dauerte annähernd doppelt so lange wie der Hinweg. Wir waren richtig dicht. Cash stolperte in Höhe der Ziegenweide und schlug lang hin, was die beiden Ziegen, die sich mittlerweile ein gemütliches Plätzchen besorgt hatte, hochschrecken ließ. Ich bemerkte irgendwann, dass ich im Zickzack lief, während Franky auch nicht mehr den aufrechten Gang draufhatte. Nur die beiden Kölnerinnen schienen noch halbwegs bei Bewusstsein. Als wir unsere Schlafplätze erreichten, tagten die Engländer immer noch. Ich hatte es befürchtet. Meinem Eindruck zufolge waren sie um einiges dichter als wir. Sie fläzten in einer Halde aus leeren Bierflaschen um ein spärlich glimmendes Feuer herum und diskutierten lautstark über Fußball. Das ich von denen die Bundesligaergebnisse erfahren könnte, war aber eher unwahrscheinlich.
Franky hatte es tatsächlich geschafft, Jeanette mit zum Strand zu locken, während Nora sich vorher von uns verabschiedet hatte und in einem kleinen Durchgang verschwunden war. Aus meiner Sicht hatte Cash bei ihr noch einen langen Weg vor sich. Aber es war ja noch Zeit genug.
Meine Vermutung war richtig, an Schlafen war eine ganze Zeit lang nicht zu denken. Die Engländer feierten, was das Zeug hielt. Ich lag auf dem Rücken in meinem Schlafsack und versuchte die Sterne zu zählen. Irgendwann in der Nacht ging den Engländern die Luft oder das Bier oder beides aus. Ich atmete durch und genoss das Rauschen des Meeres. Die Stille hielt nur kurze Zeit. Jeanette, in Frankys Schlafsack, fing an zu stöhnen. Scheiße noch mal, dachte ich, die Engländer geben Ruhe und die beiden neben mir fangen an zu vögeln. Vorsichtig richtete ich mich auf und blickte mich prophylaktisch nach einem ruhigeren Schlafplatz um. Es war stockdunkel. Frustriert ließ ich den Kopf wieder sinken. Jeanette wurde immer schriller, sie hörte sich wie ein schlecht geölter Handwagen an. Zwischendurch hörte ich immer wieder Franky grunzen. Ich nahm das Sternezählen wieder auf, musste jedoch bei 47 aufhören, weil ich bei dem Lärm neben mir immer wieder verzählte. Wahrscheinlich wurden auch die Engländer von Frankys Nummer geweckt. Sie fingen erneut an zu diskutieren. Meine Englischkenntnisse waren eigentlich ganz passabel, aber ich verstand kein Wort. Waren das wirklich Engländer? Britisch klang das aber vielleicht waren es auch Schotten oder Iren. Ich hatte irgendwo einmal gehört, Schotten mögen uns Deutsche unter anderem deswegen, weil wir ein ähnliches Englisch sprechen wie sie selbst.
Jeanette stöhnte und japste unaufhörlich in kurzen, fast regelmäßigen Abständen und begann auf einmal zu quieken. Die Engländer, wenn es tatsächlich welche waren, hielten inne und schienen sich jetzt über Franky und insbesondere über Jeanette zu amüsieren. Von Cash hörte ich nichts. Musste der einen Schlaf haben. Wenn Cash allerdings demnächst auch noch Nora mitbringt, überlegte ich, halte ich es hier nicht mehr aus.
Aus einschlägigen Erfahrungen waren mir die Schattenseiten ausufernder Saufabende in allen Facetten bekannt, insbesondere der jeweilige Morgen danach. Der kurz vor der Explosion stehende Schädel, die muffige Trockenheit im Hals mit einem Pelz auf dem Gaumen, der Würgegriff der Müdigkeit und das ständige Gefühl, jederzeit einen Strahl in die Gegend kotzen zu müssen. Dass sich fast all diese Symptome pünktlich am nächsten Morgen bei mir einstellten, überraschte mich demnach kaum. Lediglich die mir bekannte Neigung, schon beim etwas intensiveren Luftholen kotzen zu müssen, schien diesmal nicht so ausgeprägt zu sein. Schon das verbuchte ich als großen Erfolg. Dafür hatte ich Sand im Mund, als ich von der schon erstaunlich intensiven Sonne, es war gerade einmal acht Uhr, geweckt wurde. Ich schwitzte in meinem Schlafsack wie in einer finnischen Sauna. Cash war verschwunden, während Franky sägte wie was das Zeug hielt. Allerdings war von Jeanette nicht zu sehen. Wenn sie nicht irgendwo weiter unten in Frankys Schlafsack lag, was ich aufgrund der dort herrschenden Luftbewegungen eher weniger vermutete, war sie in ihr Zimmer zurückgekehrt. Ein Blick zu den Engländern trieb mir das blanke Entsetzen ins Gesicht. Sie lagen schnarchend auf dem Rücken, in nahezu derselben Anordnung, in der sie gestern Nacht zusammengesessen hatten. Einer hielt noch eine Dose Heineken umklammert. Erstmals wurde das wahre Ausmaß ihres Gelages sichtbar. Ein Meer leerer Bierdosen, Flaschen und Zigarettenkippen. Nach meinen vorsichtigen Schätzungen werden sie einen Normalzustand frühestens in drei Tagen erreicht haben.
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